Bochum. Der Spezialgroßhändler für Wälzlager peilt einen neuen Rekordumsatz an. Internationalität ist Trumpf: Mitarbeiter aus mittlerweile 23 Ländern sprechen in 14 Sprachen mit den Kunden
Die Länderfahnen könnten eigentlich hoch über dem Firmensitz hängen und nicht nur als kleine Flaggen das Personaltreppenhaus des Verwaltungsgebäudes zieren. USA, Russland, Türkei, Elfenbeinküste, Polen, Niederlande, und etliche bunte Fahnen mehr. Sie würden von weitem zeugen, dass hier an der Dietrich-Benking-Straße in Hiltrop eines der internationalsten Unternehmen Bochums zu Hause ist.
Der Großhändler Picard exportiert in viele Länder der Erde. Und er beschäftigt Mitarbeiter aus 23 Ländern. „Wir sprechen mit unseren Kunden in 14 verschiedenen Sprachen“, erklärt Marketing- und Projektmanagerin Natascha Schüler, die Web-Präsenz ist in sieben Sprachen wählbar. „Die Sprache ist der Schlüssel zum Kunden.“ Sie muss nicht deutsch sein. „Uns ist nicht so wichtig, dass ein Kollege oder eine Kollegin im Verkauf perfekt deutsch spricht. Sie soll perfekt ihre Muttersprache beherrschen – und die Mentalität, die Geschäftsgepflogenheiten ihre Landes kennen.“
Mit dieser Maxime hat es Picard weit gebracht. Vier Jahre nach seiner Rückkehr aus Witten nach Bochum, wo das Unternehmen 1922 gegründet wurde, steuert es auf Rekordkurs. Im Vorjahr stieg der Umsatz auf 55 Millionen Euro – so hoch wie nie in der Firmengeschichte. „Wenn sich die Umsätze bis Jahresende so entwickeln wie in den ersten fünf Monaten, werden wir 2016 ein zweistelliges Umsatzwachstum realisieren können“, sagt Natascha Schüler. Schon deutet sich an, dass der erst 2012 bezogene Firmensitz mit seinem 5000 qm großen Lager und der 3000 qm großen Verwaltung auf zwei Ebenen bald zu klein werden könnte.
Lieferant für den Fachhandel
Wer ist überhaupt Picard? Bekannt ist das Unternehmen vor allem nur Branchenkennern, weil es ausschließlich den technischen Fachhandel bedient – vornehmlich mit einem Produkt, das in jedem Haushalt durchschnittlich mehr als 100 Mal vorkommt, aber dennoch wenig bekannt ist: das Wälzlager. Mehr als 30 000 unterschiedliche Artikel, besagte Wälzlager der weltweit wichtigsten Hersteller inklusive Zubehör, führt Picard in den Regalen des neuen, blitzblanken Lagers. Und das ist neben der länderspezifischen Ansprache der Kunden durch die Verkäufer das zweite große Plus im weltweiten Wettbewerb. „Unser großer Vorteil ist, dass wir herstellerübergreifend bevorraten und einen riesigen Vorrat hier im Lager haben“, erklärt Natascha Schüler. „Wir können auch Typen liefern, die beim Hersteller vielleicht gerade Lieferzeit haben.“
Das ist wichtig für ein Produkt, das – ob im Kleinformat oder groß und tonnenschwer – als Verschleißteil kostenträchtige Produktionen aufhalten kann. Vorrat und schnelle Verfügbarkeit ist da ein unschlagbares Verkaufsargument. Mit 40 unterschiedlichen Versandarten wird die Ware in die Welt geschickt, etwa 70 Prozent geht ins Ausland – mit allen klassischen Varianten der Logistik, aber auch mit ungewöhnlichen Wegen. Schüler: „Auf Kundenwunsch schicken wir nach Holland auch ein Taxi, wenn es schnell gehen soll.“
Die Größe des entwicklungsfähigen Areals, 22 000 qm hat Firmeninhaber Marc Picard im Gewerbepark Hiltrop für den Firmensitz gekauft, aber auch die gute Anbindung zur Autobahn haben den Ausschlag für die Rückkehr in die Heimatstadt gegeben. So wie 1990 Bochum kein geeignetes Grundstück anbieten konnte, als Picard sich neu orientierte, hatte diesmal Witten nichts anzubieten, was der Firma eine Entwicklungschance eröffnet hätte.
Es ist wichtig, immer flexibel zu sein. Das prägt die Firmengeschichte. Anfang der 1990er Jahre veränderte Picard sein Geschäftsmodell, der Bergbau- und Stahlzulieferer spezialisierte sich auf die exklusive Belieferung des technischen Fachhandels mit Wälzlagern. Wenn diese durch äußere Einflüsse erschwert wird, müssen neue Wege gegangen werden. 2014, als das Russland-Geschäft stark zurückging, hat sich Picard neu orientiert. „Da es nach Osten nicht mehr ging, haben wir nach Westen geschaut. Jetzt sind wir dabei, den südamerikanischen Markt weiter zu erschließen. Das ist Unternehmertum. Das ist Mittelstand.“
Chillen in lässiger Umgebung gehört zur Firmenphilosophie dazu
Großzügig. Das ist wohl das treffendste Wort, um den ersten Eindruck von Picards Firmenzentrale zu beschreiben. Das zweistöckige, halbrunde Gebäude mit der imposanten Glasfront verkündet davon, dass Zweckbauten nicht ausschließlich dem geschäftlichen Zweck dienen und nüchtern und funktional sein müssen. Architektonischen Anspruch und einen unübersehbaren Wohlfühlfaktor dürfen sie auch haben. Beides trifft zu für die Adresse Dietrich-Benking-Straße 78 im Gewerbepark Hiltrop.
Und wer glaubt, der überraschende Blick im lichten Eingangsportal auf eine mit Pflanzen begrünte Wand sei nicht mehr als ein Aufmerksamkeit erhaschender Eye-Catcher, irrt gewaltig. Grüne Wände, die Leben und Inspiration inmitten urbaner Arbeitsatmosphäre transportieren, gibt es an sechs Stellen im gesamten Komplex. Auch im Lager, das ebenso licht und freundlich erscheint wie das Verwaltungsgebäude, und wo der viele Quadratmeter große Pflanzenteppich vis a vis der Regelwände, Transportbänder und Gabelstapler einen verblüffenden Kontrast bilden.
Bauherr Marc Picard hat sich viele Gedanken gemacht, oder von Architekt und Innenarchitekt machen lassen, um einen außergewöhnlichen Firmensitz zu errichten. Fast grenzt es an Beleidigung, den Pausenraum für die gesamte Belegschaft eben Pausenraum zu nennen. Der mit stylishen Wohlfühlmöbeln, hellen Tischen und Küchenzeile ausgestattete Saal – eingebettet in zwei große Fensterfronten, die Blicke nach draußen und den Weg zum Balkon samt Strandkörbe eröffnen – hat ebenso Lounge-Charakter wie die ebenfalls als solche unzureichend titulierte Kaffee-Ecke im Erdgeschoss. Zu ihr gehört auch eine transparente, frischluftversorgte Raucherkabine, so dass Raucher und Nichtraucher nicht nach „vor der Tür“ und „hinter der Tür“ getrennt sind.
Eine Etage höher kann jeder Mitarbeiter im Fitnessraum etwas für seine Gesundheit tun. Unzweifelhaft signalisiert diese Ausstattung: Wer gut und erfolgreich arbeiten soll, der muss auch mal entspannen können – auch beim Familienfest, das alle zwei Jahre veranstaltet wird, oder bei einer der Reisen, die die gesamte Belegschaft bereits nach Paris, Rom oder London brachte. Eine moderne Arbeitswelt.