Bochum. . Nahe des Gerther Stadtkerns liegt die Straße Heimatscholle. Lärm und Hektik bleiben hier außen vor. Der Besucher trifft auf ein Viertel, das in sich ruht – samt seiner Bewohner.

Vom Bauern Heiermann weht’s kernig herüber. Der, nun ja, Duft aus den Schweinestallungen wird vom stadtgewöhnten Riechorgan irritiert bis ablehnend registriert. Leben wie auf dem Land: Auf der Heimatscholle bleiben Lärm und Hektik des nahen Gerther Stadtkerns außen vor. Willkommen auf der Straße mit dem vielleicht heimeligsten Namen Bochums. Willkommen in einem Viertel, das in sich ruht. Und seine Bewohner ebenso.

Ende der 1930er Jahre errichtet, leben in der Siedlung noch erstaunlich viele Nachkommen der Frauen und Männer der ersten Stunde. Adriane Luise Schrekkert, geborene van Kaam, gehört dazu. Als sie 1940 zur Welt kam, hatten Vater und Mutter das Einfamilienhäuschen mit der Hausnummer 35 kurz zuvor bezogen. Die heute 74-Jährige hat die Scholle nie verlassen. „Ich war mal in der Heimat meines Vaters in Holland. Aber da wollte ich nach kurzer Zeit nur eines: nach Hause“, erinnert sie sich.

Verbundenheit mit Heim und Hof

Wer den scheinbar unscheinbaren Knick zwischen Hiltroper Landwehr und Am Hillerberg abläuft, erkennt den Reiz der Siedlung vielleicht erst auf den zweiten Blick. Die Wohnhäuser: allesamt nicht mehr als zweistöckig, alles andere als protzig, dafür rustikal und so bodenständig wie die Menschen, denen sie Heimat geben. Die Gärten: liebevoll gepflegt, wetterfeste Pflanzen allerorten, Zeugnis der Verbundenheit mit Heim und Hof.

Die Heimatscholle, das ist eine Wohnstraße. Nur wenige Gewerbebetriebe sind anhand der Türschilder ausfindig zu machen. Eine Heilpraktikerin geht hier ihrer Arbeit nach, eine Immobilienmaklerin ebenso. Ein Reisedienst wirbt für seine Fahrten u.a. zum Flughafen Düsseldorf.

Festlicher Schmuck in den Fenstern

Wer hier lebt, macht es sich nett. Kein Garten, kaum ein Fenster, in denen jetzt in der Vorweihnachtszeit keine Kerzen, Rotröcke oder sonstiger festlicher Schmuck blitzt und blinkt. Ein Fußballtor mit DFB-Wimpel weckt noch Erinnerungen an die seligen WM-Wochen im Sommer. Aus einem Küchenfenster dringt der Duft frisch gebackener Plätzchen in die raue Winterluft.

„Die Heimatscholle ist mehr als eine Siedlung. Sie ist ein Lebensgefühl“, schwärmt Adriane Luise Schrekkert. Geborgenheit ist der wohl passendste Begriff, der dieses Gefühl umschreibt. Wohl dem, der als hässlichsten Flecken seiner Straße lediglich eine alte Litfasssäule zu beklagen hat, deren grauer Beton abstoßend wirkt. Warum in diesem nicht eben belebten Winkel jemals eine Werbesäule aufgestellt wurde, ist kaum nachzuvollziehen.

Blick auf sattgrüne Wiesen in Richtung Gysenberg

Das Schöne hier ist, dass die Natur so nahe ist, erfährt die WAZ von mehreren Nachbarn. Einmal die Straße hoch, Richtung Parkplatz mit mehreren Wohnmobilen und dann direkt links: Üppig öffnet sich der Blick auf sattgrüne Wiesen Richtung Gysenberg und den Schweinebauern im zum Greifen nahen Sodingen, der seine Duftnote täglich setzt (was die „Ureinwohner“ kaum zur Kenntnis nehmen).

Wann hier zuletzt etwas Außergewöhnliches passiert ist? „Eigentlich noch nie“, grübelt Adriane Luise Schrekkert. „Ach doch“, fällt ihr plötzlich die Schreckensnacht vor acht Jahren ein. Aus bis heute ungeklärten Gründen stand des Nachts plötzlich das Treibhaus im Garten in Flammen, in dem Ehemann Manfred (81) mit Inbrunst Gurken, Tomaten und Salat gezüchtet hat. „Zum Glück waren wir versichert“, erzählt das Ehepaar. Das Treibhaus wurde neu aufgebaut. Schade finden es die Schrekkerts, dass nur noch wenige Kinder in der Siedlung leben. Früher, in den 50er bis 70er Jahren, war die Heimatscholle eine Spielstraße, ohne dass die Straßenverkehrsordnung diesen Begriff vorsah. „Wir alle haben eine wunderschöne Kindheit und Jugend gehabt“, sagt die Seniorin, die sich besonders gern an die weißen Winter erinnert.

Winterfreuden im Hiltroper Park

„Wenn der erste Schnee fiel, ging’s mit dem Schlitten und den Schlittschuhen in den Hiltroper Park.“ Die Mutigsten trauten sich auf die „Todesbahn“. Es gab Schrammen. Überlebt hat zum Glück jeder. „So etwas“, bedauert Schrekkert, „gibt’s heute für die Kinder nicht mehr.“

Während des Plauderns ist der Vormittag wie im Flug vergangen. Die Heimatscholle liegt noch so ruhig und beschaulich da wie am Morgen. Wie die Menschen hier ticken, zeigen die folgende Minuten. Als wenn sie es für die WAZ vorbereitet hätte (dabei war es ein Überraschungsbesuch), holt Adriane Luise Schrekkert drei sorgfältig geschnürte Geschenkpakete aus dem Schrank. Eines überreicht sie mit besten Weihnachtswünschen an den Postboten, der soeben angeklopft hat. Zwei Präsente deponiert sie auf den Mülltonnen vor dem Haus: „Für die Müllmänner, die sich das ganze Jahr so schwer für uns abrackern.“

Auf der Heimatscholle weiß man ehrliche Arbeit zu schätzen. Kein Wunder: Die Siedler haben es selbst mit harter Arbeit zu etwas gebracht. Ihre Häuser bleiben. Das Lebensgefühl auch. Vom Bauern Heiermann weht’s kernig herüber.