Bochum. Nach Europa die ganze Welt: Der Bochumer Agit Kabayel ist nach seinem K.o.-Sieg Schwergewichts-Europameister – und er hat noch nicht genug.

Wer am Boxring Platz nimmt, hat besser dunkle Kleidung an. Dumpf patscht es, wenn eine Faust ihr Ziel findet. Es spritzt dann schon mal. Meist ist es Schweiß. Manchmal nicht. Wer da Weiß trägt, braucht sich über rote Spuren nicht zu wundern. Anfängerfehler. Doch es war einer, dem man die Anfängerrolle im Geschäft der fliegenden Fäuste nun wirklich nicht zuschreiben kann, der sich über rote Flecken auf seiner weißen Hose wunderte. „Von wem ist das Blut, Coach?“, hatte Agit Kabayel seinen Trainer Sükrü Aksu gefragt. Die Antwort: „Deins, Agit, du hast einen Cut am Auge.“ Der 30-Jährige konnte es nicht glauben. Schmerzen spürte er keine, nur Glück und Kraft – 107 Kilo Endorphine und Adrenalin pur.

Agit Kabayel hat sich am späten Samstagabend zum zweiten Mal den Titel des Schwergewichtseuropameisters des Kontinentalverbands EBU gesichert. In Bochum, in seiner Heimatstadt, besiegte er in einem spektakulären Kampf den Kroaten Agron Smakici (32) durch einen technischen K.o. in der dritten von zwölf möglichen Runden. „Der Titel bedeutet mir sehr, sehr viel“, sagte er später im VIP-Raum des Ruhrcongresses. „Ich muss das erstmal sacken lassen.“ Schon von 2017 bis 2019 hatte er den Titel gehalten, ihn dann aber wegen Plänen in den USA niederlegen müssen. Nun „in meiner Heimatstadt, vor ausverkaufter Halle“ den vakanten Titel zurückzuholen, „das werde ich in meinem Leben nicht vergessen“.

Schlaghagel des Gegners

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Nicht mehr erinnern konnte er sich allerdings, wann er den Treffer mit blutigen Folgen kassiert hatte. In der zweiten Runde war Kabayel in einen Schlaghagel seines Gegners geraten, ihm wurde nach ein paar Treffern auf den Hinterkopf kurz schwarz vor Augen, plötzlich hing er in den Seilen. Den mehr als 3000 Zuschauern stockte der Atem. „Ich habe gemerkt, dass die Stimmung plötzlich komisch wurde“, sagt Kabayel. „Aber das hat mich motiviert.“ Er kam in Runde drei eindrucksvoll zurück, deckte Smakici mit Schlägen ein. Nach 2:37 Minuten hatte der Ringrichter genug. Smakici, der zuvor von 20 Kämpfen nur einen verloren hatte, brach benommen zusammen. Die Siegerehrung verpasste er, für ihn ging es ins Krankenhaus.

Agit Kabayel (l.) boxt gegen den Kroaten Agron Smakici.
Agit Kabayel (l.) boxt gegen den Kroaten Agron Smakici. © dpa

Die Zuschauer bemerkten es kaum, ihr Held hieß Kabayel – und der wurde gefeiert. „Ihr habt erlebt, wie ein neuer deutscher Box-Star geboren wurde“, rief Promoter Ulf Steinforth von Kabayels Boxstall SES ins Hallenmikrofon. „Das war ein grandioser Boxabend, den ich in 25 Jahren noch nicht erlebt habe.“ Auch Trainer Aksu stimmte ein: „Agit hat gezeigt, dass er nicht nur austeilen, sondern auch einstecken kann. Das war gute Reklame. Ich wünsche mir jetzt gute Gegner, damit wir den Boxsport in Deutschland wieder hochholen können.“

WM-Kampf gegen Fury platzte

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Und Agit Kabayel machte klar, was sein nächstes Ziel ist: „Jetzt nehmen wir den Weltmeistertitel in Angriff.“ Der gelernte Gleisbauer mit Wurzeln in der Türkei steht bei den vier Weltverbänden (IBF, WBA, WBO, WBC) nach dem Sieg in den Top 15. Später im VIP-Raum sprudelten die Worte so schnell aus ihm heraus, wie zuvor die Schläge auf seinen Gegner niedergeprasselt waren: „Es liegt in Gottes Hand, wann es zu einem WM-Kampf kommt“, sagt Kabayel. „Ich bin bereit, wenn sie morgen anrufen, sage ich: Let’s go.“ 2020 wäre es beinahe soweit gewesen: Kabayel sollte gegen WBC-Weltmeister Tyson Fury aus England antreten. Doch wegen Corona wurde der Kampf abgesagt.

Kabayel weiß, dass er „noch immer unterschätzt“ werde. Zuletzt hatte er nur einen Kampf pro Jahr bestritten. 23 Siege in 23 Profikämpfen, 15 durch K.o. stehen in seiner Bilanz. „Es liegt nicht an mir, ich würde am liebsten viermal im Jahr kämpfen“, sagte Kabayel. Doch hochklassige Boxabende zu organisieren, ist auch eine Frage des Geldes; und der Sport hat in der Pandemie extrem gelitten. „Ich hoffe, dass wir den Boxsport jetzt wieder beleben können, dass wieder mehr Zuschauer kommen – dann kommen auch große Namen nach Deutschland, und ich kann mehr kämpfen.“

Den blutigen Riss über der rechten Augenbraue – „der erste Cut in meinem Leben“ –, hatte Agit Kabayel da längst vergessen.