Essen/Boulder. Gesa Krause hat alles auf Olympia ausgelegt: ihr Training, ihr Leben in den USA. Im Interview spricht die Hindernis-Europameisterin über den geplatzten Traum.

Gesa Felicitas Krause ist im Auto, als sie an ihr Telefon geht. Sie fährt von dem kleinen Städtchen Boulder in die 70 Kilometer entfernte Großstadt Denver. Die 27-Jährige muss einen neuen Mietwagen abholen. Erst vor wenigen Tagen hatte die Europameisterin und WM-Dritte über 3000 Meter Hindernis ihren Aufenthalt im US-Bundesstaat Colorado verlängert. Sie wollte sich im Höhentrainingslager weiter auf Olympia vorbereiten. Nun sind die Spiele in Tokio verschoben. Gesa Felicitas Krause hat ihr Ziel verloren.

Frau Krause, wie geht es Ihnen?

Gesa Felicitas Krause: Ich möchte mich nicht beschweren, denn es gibt derzeit ein viel größeres Problem. Trotzdem wäre es gelogen, wenn ich sagen würde, dass die Entscheidung nicht an mir nagt. Es ist definitiv ein Traum, der geplatzt ist. Es ist so viel Energie und Leidenschaft in diese Vorbereitung eingeflossen. Jetzt gerade erscheint vieles sinnlos. Wir als Athleten stehen erstmal mit nichts da – wie viele andere Menschen gerade aber auch.

Wie haben Sie die Entscheidung aufgenommen?

Krause: Man hat ja schon damit gerechnet, unter den gegebenen Umständen ist es die richtige Entscheidung. Fakt ist aber auch, dass für uns Athleten eine Menge an Olympia hängt. Da wird einem der Boden unter den Füßen weggerissen. Es ist frustrierend, schade und traurig. Aber wir befinden uns in einer globalen Krise, die überwunden werden muss. Es ist richtig, dass Olympische Spiele da nicht hinpassen. Die Entscheidung ist mit Blick auf die Sicherheit aller Beteiligten die beste. Aber das ändert nichts daran, dass man als Athlet frustriert und getroffen ist.

Wie geht es nun für Sie weiter?

Krause: Darauf kann ich noch keine Antwort geben. Die Verarbeitung braucht jetzt Zeit. Niemand weiß wie es weitergeht. Es herrscht überall eine große Ungewissheit.

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Sie haben sich entschieden, nicht nach Hause zu reisen, sondern vorerst in den USA zu bleiben. Warum?

Krause: Zunächst habe ich meine Unterkunft noch für die kommenden Wochen gebucht und alles schon bezahlt. Außerdem bin ich nicht der Typ für eine Hauruck-Aktion. Ich kann nicht alles stehen und liegen lassen, meine Laufschuhe in die Ecke werfen und aufhören. Ich bin letzte Woche noch 180 Kilometer gelaufen, da ist es für den Körper nicht gesund, wenn man von jetzt auf gleich gar nichts mehr macht. Außerdem treffe ich hier beim Training jeden Tag Leute, die die gleiche Situation erleben wie ich. Das sind für mich die schönsten Stunden am Tag.

Egal, wo man Sie in den vergangenen Jahren traf – ob nach ihrem EM-Titel 2018 in Berlin, nach WM-Bronze im Herbst in Doha oder bei Terminen abseits des Sports: Stets schwebte ein Thema über Ihnen – Olympia 2020. Was macht es mit Ihnen, dass nun all Ihre Pläne dahin sind?

Krause: Seit Ende 2017 habe ich mit dem Fokus auf Olympia begonnen, auch als ich letztes Jahr bei der WM war, war das Thema Tokio 2020 immer präsent. Und jetzt ist auf einmal dieses Ziel weg. Da fällt es einem schwer zu sagen: „Ja, dann laufe ich halt bei irgendeinem Sportfest mal eine schnelle Zeit.“ Das ist nicht das gleiche. Im Moment kann ich nicht sagen, was mein nächstes Ziel ist. Das hatte ich noch nie: Dass ich ziellos durch die Gegend gelaufen bin. Aber man muss das Beste daraus machen.

Tauschen Sie sich momentan trotz der Distanz mit Ihrer Familie aus?

Krause: Ja, ich bin in Kontakt mit meinen Eltern und Freunden, sogar mehr als sonst, weil alle die Zeit dazu haben. Es ist schon eine einsame Zeit, aber das gilt ja gerade für alle Menschen.

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Wie nutzen Sie die Zeit in den USA?

Krause: Indem ich versuche, das Ganze zu verarbeiten. Es ist Zeit für mich, um neue Ziele zu definieren oder um einfach nur mit dem Thema Olympia 2020 abzuschließen. Zu Hause hätte ich nicht einmal mehr ein Stadion, in dem ich trainieren könnte – hier habe ich die Möglichkeit noch. Auch eine lange Pause wäre jetzt in einem vorolympischen Jahr nicht sinnvoll, verreisen kann man auch nicht. Sich abzulenken wird einem schwer gemacht. Aber das Wetter hier ist sehr schön, ich habe ganz wunderbare Laufstrecken, sehr, sehr viel Natur. Ich versuche, mich an diesen kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen und viel Kontakt mit meiner Familie zu haben. Es ist kein großer Plan, aber für mich gerade die vernünftigste Lösung. Wie lange die Verarbeitung dauert, ist jetzt noch schwer zu sagen.

Kommen Sie durch die Verschiebung der Spiele in Existenznöte – manche Sponsoren binden Ihre Verträge ja an Olympia-Zyklen?

Krause: Es ist eine schwierige Situation, aber ich glaube, dass es viele Athleten gibt, denen es vielleicht noch schlechter geht als mir.

Können Sie das erklären?

Krause: Als Sportsoldatin habe ich Rückhalt durch die Bundeswehr, außerdem durch meinen Verein, die Sporthilfe Rheinland-Pfalz und meinen Ausrüster Nike, meine Sponsoren GLS und Toyota. Das sind große Förderer, die auch über Olympia hinaus Bestand haben. Es gibt aber auch Athleten, die müssen mit Antrittsgeldern – für Läufe, die jetzt wegen Corona nicht stattfinden – ihre Trainingslager oder ihren Alltag finanzieren. Für mich sind Wettkampfprämien oder Antrittsgelder zum Glück Einnahmen, die ich im Vorfeld nie fest einplane, die als Zusatz kommen. Aber klar, ich habe auch einige Verträge, die nach Olympia auslaufen. Da fragt mich schon: Werden die nochmal um ein Jahr verlängert?

Kann man da auf das Verständnis der Sponsoren hoffen?

Krause: Grundsätzlich glaube ich, dass auch Sponsoren vor eine neue Herausforderung gestellt werden. Sie sind genauso wie Athleten an Kooperationen interessiert, sie möchten die Sportler auf dem Weg zu Olympia begleiten. Nun gibt es ein zweites vorolympisches Jahr – das ist neu. Ich hoffe, dass man da Sonderlösungen findet. Es wird garantiert Einbußen geben, aber wenn man sich die Weltwirtschaft anschaut, wäre es ja fast unfair, wenn es uns Sportler nicht treffen würde. Das klingt zwar komisch, aber es geht ja allen momentan so. Es ist eine bedrückende Zeit.

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Wenn Sie jetzt an Olympia in einem Jahr denken – was geht Ihnen da durch den Kopf?

Krause: An Olympia? Was soll ich da denken? Das ist vorbei! Da denkt man jetzt besser nicht dran, sonst ist man nur noch deprimiert. Das Training, was ich jetzt mache, hat auf die Leistung in über einem Jahr keine Auswirkung – außer vielleicht, wenn ich gar nichts machen würde. Aber ob ich heute 15 oder 20 Kilometer gelaufen bin, ist im Endeffekt nicht ausschlaggebend für nächstes Jahr bei den Olympischen Spielen.

Wie können Sie sich ablenken?

Krause: Es ist schwierig, denn ich habe mein ganzes Leben um diese Olympischen Spiele herum gebaut. Alles drehte sich darum, mich optimal darauf vorzubereiten. Mein Leben nebendran war auf eine Minimalstufe runtergeschraubt. Meiner Familie und meinen Freunden war bewusst, dass sie mich in diesem Jahr nicht oft sehen werden, weil ich mich optimal vorbereiten wollte. Dementsprechend bleibt auch wenig Zeit für andere Hobbys. Ich lenke mich jetzt ab, indem ich mal eine Serie schaue, ein Buch lese, mit diversen kleinen Beschäftigungen.

Das Suchen nach alternativen Beschäftigungen ist ja momentan ein generelles Problem in einer Gesellschaft, in der das öffentliche Leben stillsteht.

Krause: Genau. Aber Sport an der freien Luft ist noch nicht verboten, und da kann ich jedem nur empfehlen, die frische Luft zu nutzen, sich aktiv draußen zu beschäftigen. Aber egal wie ich mich auch ablenke, am Ende ist es einfach schwierig. Die Entscheidung zur Verschiebung ist gerade ein paar Tage alt, da kann man nicht sagen: „So, Olympia ist vorbei, ich mache jetzt das und das.“ Das nagt sehr an mir und anderen Athleten. Ich habe mit vielen jetzt schon darüber gesprochen und das ist definitiv ein Prozess, der bei uns allen unterschiedlich lange dauern wird. Ich denke, diese Zeit muss man einfach jedem einzelnen zugestehen.

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Da fällt es schwer, sich vorzustellen, bald schon wieder voll fokussiert auf Tokio 2021 hinarbeiten zu können…

Krause: Das muss man hinbekommen. Aber nicht von jetzt auf gleich. Ich kann auch jeden Athleten verstehen, der momentan sagt: „Ich bin sauer, ich bin traurig, ich bin enttäuscht, ich habe einfach keine Lust mehr, mich sportlich zu bewegen.“ Da würde ich niemals jemanden für verurteilen, weil es für mich absolut verständlich ist.

Können Sie das beschreiben?

Krause: Es ist wirklich so, als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen. Man wird ins kalte Wasser geworfen und kann nicht sagen, was jetzt passiert. Man muss anfangen zu schwimmen, um nicht unterzugehen, und irgendwo ist auch Land in Sicht. Aber wie man dahinkommt? So ganz weiß man das noch nicht.