Miami. Die Kansas City Chiefs gewinnen das Finale der NFL. Für einen Deutschen war es eine Enttäuschung. Für Trainer Andy Reid die Erlösung.
Um die süßesten Siege im Leben so richtig genießen zu können, muss man zuweilen vorher die bittersten Pillen schlucken. Und deswegen ist im Falle von Andy Reid ein Rückblick angebracht: Im Sommer 2012 hatte der Trainer der Kansas City Chiefs den Tod seines Sohnes Garrett zu verkraften. Reid hatte seinen Sohn während der Zeit bei den Philadelphia Eagles als Fitnesscoach in den Trainerstab des Football-Teams geholt, auch um ihn ein wenig unter seine Fittiche zu nehmen. Was bedauerlicherweise nicht gelang: Garrett war drogenabhängig, er starb an einer Überdosis Heroin. Wenn Reid sich damals von seinem Job zurückgezogen hätte, wäre das nur menschlich und verständlich gewesen. Er verzichtete darauf. „Ich liebte, was ich tat“, sagte der 61-Jährige dieser Tage zum Umgang mit dem schwerwiegenden familiären Verlust. „Ich dachte, es wäre eine gute Medizin.“
Niederlage für den Deutschen Mark Nzeocha
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In einem Außenbezirk von Miami, wo man den Charme von Floridas Metropole herzlich wenig sieht und wo man noch weniger gesehen werden möchte, dürfte Andy Reid am Sonntagabend den letzten Schluck Medizin genommen haben. Eine standesgemäße Dusche gelblich-klebriger Elektrolyte war im Hard Rock Stadium über ihm ausgegossen worden, nachdem seine Kansas City Chiefs den 54. Super Bowl mit 31:20 (7:3, 3:7, 0:10, 21:0) gegen die San Francisco 49ers mit dem Deutschen Mark Nzeocha gewonnen hatten.
Menschen umarmten den überaus stämmigen Trainer, sofern und so weit die Arme reichten. Als Andy Reid aber seine Frau Tammy umschloss, liefen die Tränen die Wangen herunter. Sicherlich wegen des großartigen Comebacks seiner Chiefs in einem schon verloren geglaubten NFL-Finale – zweifelsohne aber wegen des emotionalen Augenblicks, den die Familie Reid nicht vollzählig auskosten durfte. „Wir haben den Glauben nie verloren“, sagte Reid, „danke an mein Team, danke an Kansas City.“
Spektakuläre Halbzeitshow mit JLo und Shakira
Der US-Sport produziert größtes Glück und entmutigende Erfahrungen – die NFL schafft das seit mittlerweile seit 100 Jahren, und natürlich ist so ein Super Bowl reich an Geschichten mit Verlierern und Gewinnern. Reid gehört zu Letzteren, er galt lange Zeit als Unvollendeter, der Super-Bowl-Triumph war sein erster Titel als Trainer. Patrick Mahomes ist ebenso zu nennen, der Quarterback warf das Ei zweimal in die Endzone der 49ers und erlief selbst einen Touchdown – MVP, bester Spieler der Partie. Keine Diskussion, oder? Nun ja, letztlich war es Mahomes auch deshalb, weil sein Gegenüber, Jimmy Garoppolo, anderthalb Minuten vor dem Ende beim Stand von 20:24 den enteilten Emmanuel Sanders überworfen hatte – San Franciscos Passempfänger wäre auf dem Weg zum Touchdown und vermutlich zum sechsten Super Bowl für die Niners nicht mehr zu stoppen gewesen.
Manchmal aber entscheiden zu kurze Würfe über den ganz großen Wurf: So holten die Chiefs zum zweiten Mal nach 50 Jahren wieder die Vince-Lombardi-Trophäe. Und wer den spektakulären Halbzeit-Auftritt von Jennifer Lopez und Shakira sowie die übrige Präsentation des wichtigsten Einzelsportereignisses in den Vereinigten Staaten zurate zieht, der weiß: Football ist Show, Football ist Drama, Football ist Erlösung. Wie das Leben.
Reid, der charismatische Schnaubartträger
Wie man sich hocharbeiten kann, verkörperte in diesen Super-Bowl-Tagen niemand besser als Andy Reid. Er war nie mit genug Talent gesegnet, um selbst Profisportler zu werden. Reid aber kämpfte sich im Trainerberuf nach oben, kam 1992 zu den Green Bay Packers, mit denen er vier Jahre später sogar als Positionscoach den Super Bowl gewann.
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Seine Mutter war Radiologin, sein Vater entwarf Kulissen für die Traumfabrik Hollywood. Reids eigener Traum wurde nun in Miami wahr: Er vereint als Trainer die elterlichen Fähigkeiten der Wissenschaftlerin und des Künstlers, entwickelt geniale Spielzüge und hat nach der Finalniederlage 2005 mit den Eagles (21:24 gegen Tom Bradys New England Patriots) nun mit Kansas endlich den begehrten Ring gewonnen. „Ich freue mich so sehr für meine Jungs“, sagte der charismatische Schnauzbartträger mit einem Hang zu bunten Hemden. „Ich würde sie noch 20 Jahre weiter coachen, wenn ich sie immer um mich hätte.“
Mahomes zweitjüngster Sieger-Quarterback
Mit dem 222. Sieg seiner Karriere und dem Erfolg im Spiel der Spiele dürfte nun auch klar sein, dass Reids Weg eines Tages in die Hall of Fame führt. „Er ist eine der besten Coaches der Geschichte“, sagte Mahomes, nachdem rot-gelber Konfettiregen als einzige Form des Niederschlags an diesem sonnigen Sonntag auf den Chiefs-Quarterback und seine Mitspieler heruntergegangen war. „Ich glaube nicht, dass er die Lombardi-Trophäe dazu brauchte, um das zu beweisen. Aber damit hat er alle Zweifel beseitigt.“
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Die lange Zeit, die Reid bereits hinter sich hat, steht Mahomes in der NFL noch bevor. Mit 24 Jahren und 138 Tagen ist er der zweitjüngste Sieger-Quarterback im Super Bowl nach Pittsburghs Ben Roethlisberger, erst im Vorjahr etablierte er sich mit famosen 5000 geworfenen Yards und 50 Touchdowns als Starter in Kansas City. Zum dritten Mal in diesen Play-offs hatten die Häuptlinge klar hinten gelegen, knapp acht Minuten vor dem Ende noch mit 10:20.
Wende auf dem Feld, Tomahawk Chop auf der Tribüne
Doch dann gab Mahomes nach bis dahin persönlich eher durchschnittlicher Darbietung dem Spiel die Wendung; er kann ja mit seinem rechten Arm Wunderdinge vollbringen, aus dem Stand oder aus dem Unterarm werfen, gegen die Laufrichtung, ohne den Receiver anzuschauen. Mit seinen Lieblings-Anspielstationen Tyreek Hill, Sammy Watkins und Travis Kelce sowie dem Runningback Damien Williams erzielten Mahomes‘ Chiefs 21 Punkte in Serie – einen größeren Rückstand hatten zuvor nur die New England Patriots 2017 gegen die Atlanta Falcons (34:28 nach Verlängerung) aufgeholt. Deren Offensivkoordinator war damals übrigens der aktuelle 49ers-Cheftrainer, Kyle Shanahan.
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Auf den Tribünen wurde der „Tomahawk Chop“, der Fangesang der Kansas-Anhänger, immer lauter. Als die Zeit heruntergelaufen war und sich der rot-weiße Menschenknäuel auf dem Rasen aufgelöst hatte, stand Andy Reid außerhalb des Stadions im Interview-Zelt und sollte den Sieg einordnen. „Alles okay“, sagte er und lachte, „ich habe keine Verletzten.“ Nichts, aber auch gar nichts sollten Andy Reids schönstem Sieg einen faden Beigeschmack verleihen.