Essen. Raheem Mostert wurde bei sechs NFL-Klubs gefeuert - die San Francisco 49ers führte er in den Super Bowl. Über die Besonderheit des US-Sports.

Auf den Tag genau sechs Jahre trennen die Szenen, die sich gleichen, aber keine unterschiedlichere Bedeutung haben könnten. Die für die San Francisco 49ers einst den sportlichen Niedergang einleiteten und die sie nun von der triumphalen Rückkehr träumen lassen.

Richard Sherman ist in der NFL ein menschlicher Abfangjäger. Wenn beim American Football der Quarterback das eiförmige Spielgerät abfeuert, ist es Shermans Job, die wieselflinken Receiver mit allen Körperteilen am Fang zu hindern. 2014 trug Sherman noch das blau-grüne Trikot der Seattle Seahawks, mit seinen langen Gräten gleichenden Armen fegte er im Halbfinale den letzten Wurf der 49ers in der Luft weg. Ein Teamkollege schnappte sich das Leder, Seattle gewann das Spiel und den Super Bowl (43:8 gegen  Denver). Für den fünfmaligen Meister San Francisco dagegen waren die Play-offs anschließend so weit weg wie die Atlantikküste. 

Am 2. Februar gegen Kansas City

2020 trägt Sherman das Rot und Gold der 49ers. Wieder stieg der heute 31-Jährige in der Nacht zu Montag beim letzten Angriff des Halbfinalgegners hoch. Diesmal fing er den Ball selbst: San Francisco gewann 37:20 gegen die Green Bay Packers und zog in den 54. Super Bowl gegen die Kansas City Chiefs (Nacht vom 2. auf 3. Februar, 0.30 Uhr/Pro 7) ein.

Sherman kniete nun also im kalifornischen Santa Clara, der Heimat der 49ers, auf dem Stadionrasen, er vergrub sein Gesicht in seinen Pranken. Sein sportlich gewagter Wechsel von den erfolgreichen Seahawks zu den strauchelnden 49ers im März 2018 hatte landesweit Stirnrunzeln ausgelöst. Nun aber hatte er es allen gezeigt, die ihn für den Trikottausch sogar verspottet hatten.

Diese Saison hat auch gezeigt, wie schnell der US-Sport aus Verlierer-Teams Titelanwärter machen kann. Abgesehen vom Eishockey ermöglicht das deutsche Sportsystem durch Auf- und Abstieg eine Durchlässigkeit in den Ligen. Neulinge sind bis auf wenige – außergewöhnlich geldpotente – Ausnahmen aber kaum auf Anhieb in der Spitze vertreten.

Draft und kluge Transfers beflügeln 49ers

In den USA können die Teams nicht absteigen, die schlechtesten bekommen aber das Vorrecht eingeräumt, sich als erstes zu verstärken: Der Draft, die jährliche Wahl der talentiertesten College-Spieler, und geschickte weitere Transfers haben nun aus dem zweitschlechtesten Team der Vorsaison (vier Siege, zwölf Pleiten) eines der beiden besten gemacht. Der von den 49ers an Nummer zwei gedraftete Nick Bosa (22) gilt bereits neben Sherman als Anführer der besten Abwehr der Liga, die es in zwei Wochen mit der bei den Chiefs von Quarterback Patrick Mahomes angeführten besten Offensive der Liga aufnehmen wird.

Die NFL kann gnadenlos sein, ihre größten Talente binnen kürzester Zeit verschleißen. Und sie kann vergessene, verstoßene Spieler noch zu viel beachteten Helden machen. So wie Raheem Mostert, dessen Handy 2015 beim Draft stumm blieb, als die Klubs sich die Spieler sicherten. Mit 220 gelaufenen Yards und vier Touchdowns war der Running Back am Sonntagabend gefeierter Spieler der 49ers. Der 27-Jährige ist zwar bereits seit Ende 2016 in San Francisco, mit seinem Tempo (10,15 Sekunden auf 100 Meter) aber auch erst seit dieser Saison ein wichtiger Faktor für Trainer Kyle Shanahan.

In anderthalb Jahren vor diesem Wechsel haben Mostert sechs NFL-Klubs vorzeitig gekündigt. Die Kündigungstage trägt er nun stets auf einem Zettel mit sich. „Ich habe tatsächlich noch alle Daten, an denen ich vor die Türe gesetzt wurde“, sagte er nach dem bisher größten Spiel seiner Karriere. „Ich bin immun geworden gegen Entlassungen. Ich wollte der Welt zeigen, was ich kann.“

Mahomes mit Kampfansage

Manche Spieler gehen an der Zurückweisung zugrunde, der mit 1,78 Metern und 89 Kilogramm vergleichsweise schmächtige Mostert ist daran gewachsen: „Es ist aber meine Art, mir selbst zu sagen: Du hast nie aufgegeben und immer an diesen Traum geglaubt – und nun schau, wohin du es geschafft hast.“ Und zwar in den Super Bowl nach Miami. Gegen Green Bay lief Mostert alle Packers in Grund und Boden. Patrick Mahomes sagte nach dem 35:24 gegen die Tennessee Titans, dem ersten Super-Bowl-Einzug der Chiefs seit 50 Jahren: „Wir sind nicht fertig, wir werden den letzten Schritt gehen.“ Das hat Raheem Mostert mit den 49ers auch vor.