London/Yokohama. Im WM-Finale stehen sich am Samstag England und Südafrika gegenüber. Für die Europäer geht es auch um Zerstreuung in Zeiten der politischen Krise
Auch am anderen Ende der Welt hat Eddie Jones natürlich einen Blick dafür, was gerade in der Heimat des Teams passiert, das er trainiert. Er weiß, dass es beim Finale der Rugby-Weltmeisterschaft in Japan am Samstag gegen Südafrika (10 Uhr/Pro7Maxx) für seine Engländer um mehr geht als um den zweiten Titel nach 2003. Der Auswahl kommt auch die Aufgabe zu, den Menschen im Vereinigten Königreich Zerstreuung zu bereiten in Zeiten der politischen Krise. „Wegen des Brexit braucht das Land im Moment wahrscheinlich etwas, über das es sich freuen kann. Es ist der Job der Mannschaft, das Land glücklich zu machen“, sagt Jones.
Selbst wenn er über ernste Dinge spricht, lächelt er immer noch so, als würde er gleich einen Witz machen. Als rolle er nur den Teppich aus für eine gelungene Pointe. Und eine Pointe wäre es ja wirklich, wenn der 59 Jahre alte Australier das Geburtsland des Rugbys in Yokohama zum Gewinn der goldenen Webb-Ellis-Trophäe führen würde.
Jones stand schon zweimal im Finale, beide Male war England involviert, allerdings als Gegner. 2003 führte er Australien ins Endspiel und unterlag der englischen Nationalmannschaft knapp. 2007 war er Assistent beim Erfolg des diesjährigen Gegners Südafrika gegen England, seine kurzfristige Berufung wurde damals als meisterhafter Schachzug gepriesen. Der Trainer ist mit allen Final-Wassern gewaschen. Das macht den Engländern Mut. „Er weiß genau, welche Knöpfe er drücken muss“, schrieb der Guardian zu Wochenbeginn. Seine Spieler vertrauen ihm ohne Vorbehalte.
Ein Coup gegen Neuseeland
Er ist der erste Ausländer als englischer Nationaltrainer und trat den Job 2015 an, nach dem Vorrunden-Aus bei der Heim-WM. Seitdem hat er Erstaunliches geleistet. Der bisherige Höhepunkt seines Erneuerungswerks war am vergangenen Samstag zu besichtigen, beim 19:7 im Halbfinale gegen die Übermacht Neuseeland. Die All Blacks waren in Japan mit der Mission angetreten, zum dritten Mal in Serie Weltmeister zu werden, doch sie zerschellten an den Engländern, die in jeder Hinsicht besser waren. Sinnbildlich für die Widerstandskraft der Mannschaft waren die Szenen vor dem Spiel. Anstatt dem Haka-Kriegstanz der Neuseeländer in einer Reihe und aus sicherer Entfernung beizuwohnen wie vorgeschrieben, stellten sich die englischen Spieler in einer V-Formation auf. V für Victory, für Sieg.
Trainer Jones glaubt an Steigerung
Es war eine Rebellion gegen den Favoriten und gegen das Protokoll. Der Weltverband verurteilte die Engländer zu einer Geldstrafe, dem Vernehmen nach in vierstelliger Höhe. Den Betrag zahlen sie sicher gerne, vor allem dann, wenn sie die WM mit einem Erfolg gegen die südafrikanischen Springboks veredeln sollten.
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Jones ist der Auffassung, dass sich seine Mannschaft im Vergleich zum Triumph über Neuseeland noch steigern kann: „Wir haben nicht das Gefühl, dass wir schon so gut gespielt haben, wie wir können“, sagt er. Seine Engländer stehen zum vierten Mal im Endspiel, doch im Vergleich zur bislang jüngsten Finalteilnahme vor zwölf Jahren, als es eine Niederlage gegen Südafrika gab, sind die Ansprüche diesmal andere. Damals war die Mannschaft das ganze Turnier über Außenseiter gewesen. Das ist diesmal nicht so, nach dem epischen Sieg gegen Neuseeland gibt es eine gestiegene Erwartungshaltung – und gestiegen Euphorie.
Auch Prinz Harry schaut zu
Karten für das Finale gehen im Internet angeblich für Zehntausende Pfund weg. Viele Pubs im Rugby-Mutterland öffnen am Samstag schon ab 8 Uhr Ortszeit. 8 Uhr morgens, versteht sich. Prinz Harry, Schirmherr des nationalen Rugby-Verbands, hat seinen Besuch beim Endspiel in Yokohama angekündigt. Der königliche Glücksbringer tritt die weite Reise in der Aussicht auf ein Duell an, in dem „Feuer mit Feuer bekämpft“ wird. So formuliert es Südafrikas Zweite-Reihe-Stürmer Lodewyk de Jager. Damit meint er, dass sich im Finale zwei Teams gegenüberstehen werden, die vor allem über ihre Aggressivität, ihre Körperlichkeit und ihre Kraft kommen.
Variabler und geschickter
In der Tat sind das grundsätzlich die Tugenden des englischen Rugbys. Doch durch Trainer Jones, der bekannt ist als besessener Arbeiter, ist die Mannschaft auch variabler und geschickter in der Spielgestaltung geworden. Auf diese Weise will er mit seiner Mannschaft vier Jahre nach der Blamage bei der Heim-WM den Titel holen – und den Menschen zu Hause in England so ein bisschen Ablenkung vom politischen Chaos spenden.