Going. Wladimir Klitschko bereitet sich auf den WM-Kampf gegen Anthony Joshua vor. Der Boxer vergleicht sich mit einem Berg – dem Mount Everest.
Das Interesse der Medien ist meist ein guter Indikator für die Bedeutung eines Boxkampfes. 33 Journalisten sind nach Österreich gereist, um Wladimir Klitschko bei seiner Vorbereitung auf das Duell mit dem Briten Anthony Joshua (27) zu beobachten, so viele wie zuletzt 2011 vor dem Kampf mit David Haye. Am 29. April versucht der 41 Jahre alte Ukrainer, noch einmal Schwergewichtsweltmeister zu werden. Der vakante Superchampiontitel der WBA und Joshuas IBF-Gürtel stehen auf dem Spiel, 90.000 Fans werden im Londoner Wembleystadion live dabei sein. Was ihn allerdings wirklich antreibt, verrät Klitschko im Interview.
Herr Klitschko, um zu erklären, warum Sie mit 41 noch in den Ring steigen, obwohl Sie genug Geld, eine eigene Familie und viele andere Interessen haben, benutzen Sie in diesen Tagen oft das Wort Besessenheit. Was macht Sie zu einem Besessenen?
Wladimir Klitschko: Besessenheit ist eine extreme Form der Liebe. Ich boxe, seit ich 14 bin. Boxen ist meine Kunst, die ich liebe. Geld ist nicht meine wichtigste Motivation. Ich bin nicht psychisch krank, sondern auf eine gesunde Art und Weise besessen von dem Ziel, noch einmal den Titel zu holen. Normalerweise muss man sich nach einer Niederlage, wie ich sie gegen Tyson Fury erlitten habe, hinten in die Schlange stellen und hoffen, dass man noch eine Chance bekommt. Ich habe trotz der Niederlage die größte Chance bekommen, die sich überhaupt bieten konnte: Ein Kampf gegen den aktuell stärksten Mann im Schwergewicht, auf der größten Bühne, die vorstellbar ist. Das ist nicht selbstverständlich, sondern großes Glück. Es ist der aufregendste Kampf seit Jahren, und es gibt viele offene Fragen, die am 29. April beantwortet werden müssen.
Die Frage, die sich die meisten vorrangig stellen: Haben Sie es noch drauf, erneut Champion zu werden, oder ist Ihre Zeit abgelaufen?
Klitschko: Ich kann die Antwort darauf nur mit Taten geben. Wenn ich die Frage verbal beantworten soll, dann sage ich: Natürlich kann ich es schaffen, weil ich alles schaffen kann. Mein Bruder Vitali hat dazu einen schönen Satz gesagt: Wenn du es willst, wirst du gewinnen. Aber du musst den Willen haben, es zu wollen. Das will ich beweisen.
Wem müssen Sie noch etwas beweisen? Sie haben doch alles erreicht.
Klitschko: Mir selbst! Ich bin sehr selbstkritisch und noch immer angepisst von mir selbst, dass ich es nicht geschafft habe, Fury zu besiegen. Deshalb motiviert es mich, mir selbst zu beweisen, dass ich es noch kann.
Ihre Niederlage gegen Fury liegt eineinhalb Jahre zurück, es war Ihr bislang letzter Kampf, dennoch sind Sie noch immer sauer darüber. Wie lang haben Sie gebraucht, um diese Besessenheit wiederzufinden, sich noch einmal zum Comeback aufzuraffen?
Klitschko: An Fury habe ich ein Jahr lang gedacht, bis mir klar war, dass der Rückkampf wegen seiner mentalen Verfassung nicht zustande kommen würde. Seitdem existiert er nicht mehr für mich, ich habe das abgehakt und als Erfahrung abgespeichert. Das Vergangene zählt nicht mehr, nur der Blick nach vorn. Scheitern ist eine Erfahrung, die ich schon mehrfach gemacht habe. Ich bin aufgestanden und zurückgekommen. Das will ich wieder tun.
Diese Schmach nicht tilgen zu können, muss dennoch bitter für Sie sein.
Klitschko: Es mag Sie überraschen, aber ich sehe das nicht als Schmach. Ich fühle mich von Fury nicht bezwungen. Ich habe verloren, weil ich nicht genug getan habe, um zu gewinnen. Er hat mich besiegt, aber nicht bezwungen. Ich erkläre das gern an einem Bild: Der Mount Everest ist der höchste Berg der Welt. An manchen Tagen gibt es Menschen, die ihn besteigen. Die stehen kurz oben, müssen dann aber schnell wieder absteigen, weil sie sonst zu Grunde gehen würden. Ist der Berg dadurch bezwungen? Nein, er ist immer noch da. So ähnlich ist das bei mir. Vier von 68 Gegnern haben den Zeitpunkt gefunden, zu dem sie mich besiegen konnten. Aber sie sind alle nicht mehr da. Ich schon, seit 27 Jahren bin ich im Spiel. Und das treibt mich an.
Trotzdem: Was haben Sie gelernt aus der Niederlage, was haben Sie geändert, um Joshua besiegen zu können?
Klitschko: Es ist komisch, dass über meine Niederlagen öfter geredet wird als über meine Siege. Aber es stimmt, dass man aus Niederlagen manchmal viel mehr lernt als aus Siegen. Die Kritik hat mich nicht verletzt, sondern motiviert, so war es immer. Ich habe viele schlaue Ratschläge bekommen nach dem Fury-Kampf, ich müsse mein Team ändern und meinen Stil. Aber mit diesem Team und diesem Stil war ich mehr als elf Jahre lang unbesiegt! Deshalb habe ich fast nichts verändert. Das, was sich verändert hat, ist meine Motivation. Ich bin wieder der Herausforderer, ich bin wieder hungrig und besessen vom Streben nach Erfolg. Am 29. April will ich beweisen, dass meine Entscheidung richtig war. Wir haben gemeinsam die Chance, unsere Fehler auszubügeln, wenn auch nicht gegen Fury.
Man wird das Gefühl nicht los, dass Ihr Ego von der Niederlage gegen Fury ziemlich angekratzt wurde.
Klitschko: Das ist absolut richtig. Es gibt eine Parallele zu meinem Kampf mit Samuel Peter im September 2005, eineinhalb Jahre nach meiner K.-o.-Niederlage gegen Lamon Brewster. Damals hat man mich als „Dead Man Walking“ bezeichnet. Das hat mein Ego angekratzt, und ich habe Peter, der als stärkster junger Schwergewichtler galt, besiegt und bin zurückgekommen. Genauso ist es jetzt. Barry Hearn, der Vater von Joshuas Promoter, hat gesagt, dass mir eine schmerzhafte Nacht bevorsteht. Es ist wie ein Déjà-vu, und ich will beweisen, dass ich jeden Gegner, der mir im Ring gegenübersteht, schlagen kann, weil ich weiß, dass mein härtester Gegner ich selbst bin.
Haben Sie einen solchen Zustand der Besessenheit, wie Sie ihn beschreiben, schon einmal erlebt?
Klitschko: Nein, in dieser Form noch nicht. Meine Karriere war eine wilde Reise, und ich habe jede Sekunde genossen. Die Erfahrungen, die ich machen durfte, haben dazu geführt, dass ich in der Vorbereitung auf Joshua ein kompromissloser, multidimensionaler Egoist bin. Ich blende alles andere aus, deshalb kompromisslos. Ich bin auf alles vorbereitet, was kommen kann, deshalb multidimensional. Und ich denke an nichts anderes als an den 29. April und mein Ziel, nicht einmal an meine Familie und meine Tochter, die ich sehr liebe, deshalb Egoist. Als jüngerer Athlet, ohne meine Erfahrungen, hätte ich das nicht gekonnt.
Nach Ihrem Karriereende sind Sie schon oft gefragt worden. Deshalb anders formuliert: Wo sehen Sie Ihre Grenze?
Klitschko: Ich möchte vollkommen sein, aber das schafft niemand. Kein Mensch wird in seinem Leben sein gesamtes Potenzial abrufen. Aber mir ist wichtig, niemals stehen zu bleiben, sondern immer noch einen Schritt weiter zu gehen. Mein Alter ist für mich weiterhin kein Thema, ich fühle mich wie 27 und bin körperlich in bester Form. Viele Dinge gelingen mir heute besser als vor ein paar Jahren. Ich freue mich, dass ich noch immer in diesem Hamsterrad bin und mein eigenes Tempo laufen kann.
Eine Niederlage gegen Joshua wäre also nicht automatisch das Ende des aktiven Profiboxers Wladimir Klitschko?
Klitschko: So lange Gesundheit und Motivation da sind, mache ich weiter. Wenn eins davon fehlt, höre ich auf. Meine Uhr tickt derzeit nur bis zum 29. April, alles andere ist sekundär.