Melbourne/Kassel. Prügel, Flucht, Pleite und jetzt Frieden: Die in Dortmund geborene Mirjana Lucic-Baronis erlebt bei den Australian Open ein Tennis-Märchen.
Es war ein Moment der großen Gefühle, auch des großen Pathos. Der Moment, an dem ihre unglaubliche Reise vom Himmel in die Hölle und zurück auf dem Centre Court der Australian Open angekommen war, anno 2017. „Gott ist gut“, sagte Mirjana Lucic-Baroni am Mittwoch in der Rod Laver Arena, als die Tennisspielerin aus Kroatien gerade nach einem Drei-Satz-Sieg über Mitfavoritin Karolina Pliskova aus Tschechien ins Halbfinale des Grand-Slam-Spektakels vorgeprescht war. Dann fügte die gebürtige Dortmunderin gerührt und auch zufrieden hinzu: „Es versöhnt mich mit allem, was ich erlebt habe. Es ist eine unglaubliche Genugtuung.“
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Verblüffende Rückkehr ins Spitzentennis
Was sie schon alles erlebt, erfahren und erduldet hat, diese erstaunliche Frau, reichte längst für mehrere Leben, für Bücher oder Filme: Sie war ein Wunderkind, ein Ausnahmetalent in den 90er-Jahren. Dann war sie das Opfer eines offenbar gewalttätigen Vaters, musste bei Nacht und Nebel mit ihrer Familie aus der Heimat in die USA fliehen. Dann war sie des Tennis überdrüssig, ging in den sogenannten Nullerjahren fast pleite im Rechtsstreit mit einem ehemaligen Manager. Und dann war sie, über viele quälende Jahre, die Darstellerin einer verblüffenden Rückkehr ins Spitzentennis.
Und nun, im Hier und Jetzt, da war die gebürtige Dortmunderin bei diesen Australian Open die anrührendste Erscheinung. 17,5 Jahre nach dem letzten Grand- Slam-Halbfinaleinzug hatte sie sich wieder für ein Vorschlussrundenmatch bei einem Major qualifiziert.
Doppeltitel 1998 mit Hingis
„Irgendwie habe ich heute meine Rechnung mit dem Tennis beglichen“, sagte die Halbfinale-Gegnerin von Serena Williams. Ganz gleich, was in diesem Spiel noch passieren würde: Lucic-Baroni war schon jetzt das Phänomen der Open, jene Spielerin, die noch aus der Ära von Steffi Graf, Gabriela Sabatini oder auch Martina Hingis stammt. 1998 hatten sie und Hingis zusammen den Doppeltitel in Melbourne gewonnen, und in jenem Jahr gab es in der Einzelkonkurrenz schon einmal die Partie Lucic-Baroni kontra Serena Williams – die Amerikanerin gewann 6:3, 6:0. Und auch im Halbfinale am Donnerstag hatte Lucic-Baroni keine Chance. Sie verlor mit 2:6 und 1:6.
Während Williams, die Jüngere, die dominierende Kraft für mehr als ein Jahrzehnt wird, nimmt die Karriere der hochgehandelten Kroatin eine tragische Wendung. Schon bevor sie 1999 ins Halbfinale von Wimbledon gelangt und gegen Steffi Graf verliert, hat sie traumatische Erlebnisse zu verkraften. Gemeinsam mit ihren vier Geschwistern und ihrer Mutter Andelka muss sie vor dem, wie sie sagt, „häuslichen Terror“ des Vaters fliehen. Die Familie findet Asyl in den Vereinigten Staaten.
Stark, unverwüstlich
Erlebnisse, die sie später, als sie den Tennisschläger vorübergehend und völlig zermürbt zur Seite legt, in einem Interview so beschreibt: „Ich habe so viele Schläge bekommen, wie man sich kaum vorstellen kann.“ Selbst die Haare habe sie sich manchmal nicht mehr bürsten können, „weil mir der Kopf so weh tat“. 2003 kann Lucic-Baroni nicht mehr weiter. Erst 2007 kehrt sie auf die kleine Tennistour zurück, es ist ein beschwerlicher Neuanfang.
Im Herbst 2014 holt Lucic-Baroni im kanadischen Quebec den Titel gegen Venus Williams – 16 Jahre nach den ersten Erfolgen. In Melbourne ist Lucic-Baroni immer noch da, stark, unverwüstlich. Mit 34 Jahren denkt sie längst nicht ans Aufhören, jetzt, wo sie Tennis und ihre späten Erfolge so glücklich genießen kann wie nie zuvor.