Köln. . Olympia, Doping – es war ein aufregendes Sportjahr. Auch für Michael Vesper. Der DOSB-Vorstandschef stellt sich im großen Interview.

Olympia in Rio, die Spitzensportreform in Deutschland – und immer wieder russische Dopingenthüllungen. Das Sportjahr 2016: eine große Berg- und Talfahrt. Für Michael Vesper (64) bedeutete das viel Arbeit. Als Chef des DOSB-Vorstands ist er Deutschlands ranghöchster Olympiamann. Für diese Zeitung nahm er sich eine Stunde zu Hause in Köln Zeit, um die Dinge einzuordnen.

Welches waren Ihre persönlichen Highlights dieses olympischen Sportjahres?

Michael Vesper: Das ist schwierig zu beantworten. Es gab so viele schöne Momente in den unterschiedlichen Sportarten – jede hat ja ihren Reiz. Aber zu den Highlights gehörte ganz sicher der mitternächtliche Sieg unserer Beachvolleyballerinnen bei den Olympischen Spielen. Unvergessen wird auch der Moment des Einmarschs unserer Mannschaft in das Maracanã-Stadion von Rio bleiben, als wir mit 400 Menschen in den Katakomben standen und die Hockey-Jungs die Nationalhymne angestimmt haben.

Haben Sie mitgesungen?

Vesper: Selbstverständlich. Ich habe einen wunderbaren Bariton (lacht).

Würden Sie zustimmen, dass der Spitzensport in diesem Jahr sehr gelitten hat? Vor allem durch die russischen Dopingenthüllungen. . .

Vesper: Ja, es war ein sehr schwieriges Jahr mit vielen Krisen. Der erste vorläufige McLaren-Report kurz vor den Olympischen Spielen, der zweite vollständige Bericht dann vor wenigen Wochen – da kommt noch viel Arbeit auf uns zu. Es ist wichtig, alles lückenlos aufzuklären. Der Glaube an sauberen Sport ist erschüttert worden, und wir müssen Vertrauen zurückgewinnen.

Wie geht es jetzt weiter?

Vesper: Bis zu den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang sind es noch 14 Monate – genug Zeit, um allen Vorwürfen sorgfältig und nach rechtsstaatlichen Kriterien nachzugehen.

Welche Konsequenzen muss es geben?

Vesper: Das IOC hat zwei Kommissionen eingesetzt. Die eine wird sich mit jeder einzelnen Urin- und Blutprobe russischer Athleten der Olympischen Spiele in Sotschi und in London befassen, sie mit den Methoden von heute nachtesten und nach möglichen Manipulationsspuren an den Behältnissen suchen. Die andere Kommission untersucht, welche strukturellen Konsequenzen nun zu ziehen sind.

Es gab viel Kritik dafür, dass russische Athleten nicht komplett von den Spielen in Rio ausgeschlossen wurden. Wird bei den Winterspielen 2018 härter durchgegriffen?

Vesper: Ein Komplettausschluss trifft immer auch Unschuldige. Aber klar ist: Die russische Mannschaft in Rio war definitiv zu groß. Viele Verbände haben nicht die Maßstäbe angelegt, die das IOC vorgegeben hatte, sondern wie die Judoka die russischen Sportler einfach durchgewinkt. Zwischen dem McLaren-Report und dem Beginn der Spiele blieb allerdings auch zu wenig Zeit, nicht einmal drei Wochen. Da lässt sich kaum jeder Einzelfall rechtssicher überprüfen. Nun kommt es darauf an, den Russen klar zu machen, dass ihre Doping-Praktiken ein Angriff auf alle Sportler sind, die ihre Wettkämpfe mit fairen Mitteln bestreiten, und dass dies weltweit nicht akzeptiert wird.

Ist es das richtige Zeichen, Sotschi die Austragung der Bob-WM im Februar entzogen zu haben?

Vesper: Ja, das war zwingend notwendig und ein richtiger Schritt, um deutlich zu machen, dass ein Verband sich nicht alles gefallen lässt. Ich bin sicher, dass andere Verbände ähnlich reagieren werden wie die Bobfahrer.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist eine Bob-WM ein vergleichsweise kleines Ereignis. 2018 soll aber auch die Fußball-WM in Russland stattfinden. Müssen hier ebenfalls Konsequenzen aus dem Dopingskandal gezogen werden?

Vesper: Die Bob-WM ist sicherlich kleiner, doch auch diese Absage hat weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt und ein Zeichen gesetzt. Bei der Fußball-WM wäre eine derart kurzfristige Verlegung organisatorisch kaum machbar und vermutlich extrem teuer.

Welche Verhaltensempfehlungen geben Sie den Fußballprofis auf den Weg? Sollten sie zu der russischen Doping-Problematik Stellung beziehen?

Vesper: Fußballspieler sind wie alle Sportler mündige Bürger, die selbstverständlich ihre Meinung kundtun, genauso gut aber auch schweigen dürfen. Das soll jeder so machen, wie er mag. Da halte ich es mit dem kölschen Motto: Jeder Jeck ist anders.

Kürzlich ist die deutsche Spitzensportreform verabschiedet worden, die eine gezieltere Förderung und mehr olympische Medaillen bringen soll. Wie zufrieden sind Sie?

Vesper: Es ist so gekommen wie immer, wenn mehrere Partner beteiligt sind: Wir haben uns auf einen Kompromiss geeinigt. Der kann sich durchaus sehen lassen und bietet für den Leistungssport in Deutschland viele Chancen. Noch nie ist in Deutschland so intensiv über den Spitzensport diskutiert worden wie bei dieser Reform.

Kritiker befürchten, dass weniger erfolgreiche Sportarten in der Versenkung verschwinden könnten.

Vesper: Es geht nicht nur um vergangenen Erfolg, sondern vor allem um künftiges Potenzial. Auch Sportarten wie das Beckenschwimmen, die bei Olympischen Spielen mehrfach nicht überzeugen konnten, sollen und können profitieren, wenn sie vielversprechende Talente und eine vorbildliche Nachwuchsarbeit mit Perspektiven aufweisen.

Es heißt, dass ein Computersystem über die Intensität der Unterstützung entscheiden soll.

Vesper: Nein, keine Sorge. Das PotAS-System (Potenzialanalyse, d.Red.) entscheidet nicht, es schafft lediglich die Grundlage für die Fördergespräche, bei denen alle Akteure am Tisch sitzen.

Wie sieht der Zeitplan aus?

Vesper: Im Januar 2019 soll das neue System greifen. Es ist auf eine langfristige Perspektive ausgerichtet. Die kommenden beiden Jahre verstehen wir als Übergangszeit.

Versuche, Olympische Spiele mal wieder nach Deutschland zu holen, sind gescheitert. Zuerst in München, vor einem Jahr gab es dann in Hamburg eine Absage. Nach Rio entstand die Idee, die Spiele in die Region Rhein-Ruhr zu holen. Sehen Sie Chancen?

Vesper: Ich habe ja dereinst selbst die Werbetrommel für die Bewerbung von Düsseldorf /Rhein-Ruhr 2012 gerührt, und ich bin NRWler durch und durch. Aber dass sich Hamburg jetzt nicht durchsetzen konnte, lag nicht am Konzept. Im Gegenteil, das war hervorragend: 95 Prozent der Wettkämpfe in einem Radius von 10 km rund um das Olympische Dorf auf einer Elbinsel gegenüber der Elbphilharmonie. Die Bewerbung ist an einem lokalen Referendum gescheitert, das knapp mit 48 gegen 52 Prozent verloren ging. Bevor man über einen neuen Anlauf nachdenkt, muss die Frage der Zustimmung und der Finanzierung geklärt sein. Noch ist es dafür viel zu früh. Erst einmal müssen wir abwarten, für welchen Ausrichter sich das IOC für 2024 entscheidet.

Hängen die Erfolgsaussichten davon ab, ob Europa oder ein anderer Kontinent den Zuschlag für Olympia 2024 bekommt?

Vesper: Da gibt es keinen Automatismus. Die nächsten drei Spiele finden bekanntlich alle in Asien statt. Eher entscheidend wird sein, wie die derzeitige Glaubwürdigkeitskrise des Sports überwunden wird.