Rio de Janeiro. Nach dem historischen deutschen Fehlstart sieht der Chef de Mission schon das Medaillenziel bei den Olympischen Spielen in Gefahr.

"Die Öffentlichkeit wird uns am Ergebnis von London und den 44 Medaillen messen", sagte Michael Vesper am vierten Wettkampftag kurz vor dem ersten Edelmetall durch die Vielseitigkeitsreiter. "Doch wir sehen es schon am Anfang, dass dieses Ziel bei der verschärften internationalen Konkurrenzlage, sehr schwer zu halten ist." An den ersten drei Tagen blieb das Team ohne Medaille - so schlecht sind deutsche Athleten nach der Wiedervereinigung noch nie bei Sommerspielen gestartet.

Nach Ansicht von Vesper drängen immer mehr Länder in die Medaillenränge. "Es ist nach wie vor alles drin. Aber klar: Wir sind enttäuscht und nicht happy drüber", betonte er. "Wir dürfen nicht den Fehler machen, die Gesamtveranstaltung und den Auftritt des deutschen Teams vom Eindruck der ersten Tage bestimmen zu lassen."

Erst die Vielseitigkeits-Equipe sorgte am Dienstag mit Silber für den ersten zählbaren deutschen Erfolg, gut zwei Stunden später legte deren Vorreiter Michael Jung mit dem deutschen Premieren-Olympiasieg in Rio im Einzel nach. Sportschützin Monika Karsch jubelte über überraschendes Silber, doch durch Platz fünf von Favorit Sideris Tasiadis im Kanu-Slalom platzte eine weitere Medaillen-Hoffnung.

Am Vortag hatte Paul Biedermann auf Rang sechs über 200-Meter-Freistil die Premieren-Medaille verpasst. Für einen emotionalen Tiefpunkt sorgte Fahnenträger Timo Boll mit seinem Achtelfinal-Aus im Tischtennisturnier gegen den Nigerianer Quadri Aruna. "Da müssen wir klar sagen, der Start ist nicht so, wie wir uns das gewünscht haben, alles andere wäre schöngeredet", konstatierte DOSB-Präsident Alfons Hörmann im Interview der Deutschen Presse-Agentur.

Für die Leistungsplaner des Deutschen Olympischen Sportbundes kommt der unrühmliche Rio-Beginn jedoch nicht unerwartet. "Der Beginn der Sommerspiele ist traditionell schwierig für unsere Mannschaft, weil es da wenige ernsthafte Medaillenchancen gibt", erklärte Vesper. In London 2012 sei es ähnlich gewesen. Dort beendete Degenfechterin Britta Heidemann mit dem Gewinn von Silber am Abend des dritten Tages die Medaillenflaute etwas früher.

"In London waren wir in einer ähnlichen Situation und haben aufgeholt", sagte Vesper. Und bei den Winterspielen 2014 in Sotschi sei es umgekehrt gewesen: "Da waren wir in der ersten Woche ständig die Nummer eins im Medaillenspiegel, in der zweiten Woche sind wir dann eingebrochen. Man steckt da nicht drin." In Sotschi holte Deutschland am Ende nur 19 Medaillen - weniger gab es seit der Wiedervereinigung nicht.

Um Geduld warb auch DOSB-Präsident Hörmann. "Das führt jetzt nicht zur Panik", sagte der 55-Jährige. "Im Moment sind wir noch in ruhiger Fokussierung." Allerdings fühlt er sich in seiner vorolympischen Zurückhaltung bestätigt: "Ich bleibe dabei, dass es ambitioniert ist, die Zahl von London zu erreichen. Wir haben im Weltsport ein Niveau, das zahlreiche Verbände nicht mehr vollumfänglich mitgehen können."

So verfehlten die deutschen Sportler zwar zum Auftakt nicht nur die wenigen fest eingeplanten Medaillen, sondern mussten auch zahlreiche verpasste Chancen und Fehlschläge in Vorkämpfen oder K.o.-Runden hinnehmen. So warten die Judoka nach sieben von 13 gestarteten Athleten immer noch auf einen Viertelfinaleinzug, gleich drei deutsche Boote fuhren am Dienstag bei der Ruder-Regatta am Finale vorbei.

Zudem fehlt bisweilen einfach das nötige Glück: Sportschützin Barbara Engleder verfehlte Bronze um nicht einmal einen Millimeter. Und die Wasserspringer Patrick Hausding und Sascha Klein mussten sich mit Platz vier begnügen - 6,03 Punkte fehlten zum Edelmetall. "Wir sind weder in der Mathematik noch in der Astrologie: Wir sind im Sport, wo es auf Tagesform und Kleinigkeiten ankommt", erklärte Vesper.