Paris. Andy Murray ist die Nummer 1 der Tennis-Welt. Nun rechnen alle mit dem Ritterschlag für den Schotten. Der Serbe Novak Djokovic steht nicht mehr oben.

Was macht man, wenn man die neue Nummer eins des Tennis ist, aber keinen Gegner hat, weil der verletzt ist und nicht spielen kann? Andy Murray schnappte seine Tasche und marschierte in die Halle von Paris-Bercy, wo die Leute auf sein Halbfinale gegen Milos Raonic warteten. Er tat, was er konnte, um sie zu entschädigen und spielte mit breitestem Grinsen und sichtlichem Vergnügen Doppel mit drei Ballkindern. Auf dem Videowürfel über der Spielfläche stand auf rotem Untergrund in großen Buchstaben: Andy world no.1. Die Botschaft des Wochenendes, unmissverständlich.

Schon vor dem Titelgewinn am Sonntag gegen John Isner aus den USA standen für Murray 10 785 Punkte in der Rangliste zu Buche und damit fünf mehr als für Novak Djokovic. Der Serbe hatte mit seiner Niederlage im Viertelfinale gegen Marin Cilic die letzte Steighilfe für Murray in den Fels geschlagen. Und so landete der 29-jährige Schotte auf dem Tennis-Gipfel – als erster Brite überhaupt im Einzel.

Die Glückwünsche der Kollegen ließen nicht auf sich warten. Einer der ersten Gratulanten – die meisten meldeten sich über Twitter – war Andy Roddick aus den USA, der im Januar 2004 die letzte Nummer eins vor der Ära Federer-Nadal-Djokovic gewesen war. Roger Federer meldete sich, und sein Glückwunsch nahm in gewisser Weise den Ritterschlag der Queen vorweg, mit dem nun alle rechnen. „Wir haben einen neuen König in der Stadt“, schrieb Federer, und als Symbol für den König hatte er eine Krone gewählt.

Bruder Jamie legte vor

Auch für die Königsmutter war es ein ganz spezieller Tag; im April hatte Judy Murray ihren älteren Sohn Jamie an der Spitze der Weltrangliste im Doppel bewundern dürfen. Andy folgte sieben Monate später im Einzel.

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Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als habe Mrs. Murrays jüngerer Sohn Pech gehabt, zur falschen Zeit geboren zu sein. Die Giganten Roger Federer, gegen den er 2008 in New York sein erstes Grand-Slam-Finale verlor, und Rafael Nadal standen im Weg, dann Djokovic, der sieben Tage jünger ist als Murray. Dass er nach vielen anfänglichen Zweifeln stark genug ist, große Titel zu gewinnen, bewies er zum ersten Mal 2012, als er in London Olympiasieger wurde und ein paar Wochen später die US Open gewann. Und vor allem im Jahr danach beim ersten Triumph in Wimbledon. Aber die Sammlung des Jahres 2016 dürfte schwer zu überbieten sein: Im Februar wurde Andy Murray Vater, im Sommer gewann er den zweiten Titel in Wimbledon und die zweite Olympische Goldmedaille, Glanzstücke einer umfangreichen Sammlung.

Noch vor fünf Monaten hatte es so ausgesehen, als throne Novak Djokovic wie in Granit gemeißelt an der Spitze. Nach dem Sieg bei den French Open Anfang Juni, seinem vierten Titel in Folge bei einem Grand-Slam-Turnier, wirkte er unantastbar, unerreichbar, entrückt. Inzwischen, nach Wochen mit Rückschlägen und überraschenden Niederlagen, sieht das anders aus. Nach seiner Niederlage im Viertelfinale von Paris-Bercy sagte die gestürzte Nummer eins: „Ich muss erst mal wieder in der Gemütsverfassung sein, in der ich in der Lage bin, Spiel für Spiel meine Leistung zu bringen.“ Es gebe ein paar Fragen, in welche Richtung er in Zukunft gehen wolle, und es werde eine Weile dauern, bis er alles neu definiert habe.

Vielleicht wird man beim ATP-Finale in London ab kommenden Sonntag mehr erfahren, auch was das Team des Serben betrifft. Boris Becker, der in Bercy nicht dabei war, soll in London wieder zur Stelle sein, aber auch was das zu bedeuten hat, weiß im Moment niemand