Amsterdam. Die Leichtathletin Julia Stepanowa ist für manche eine Heldin, für andere ein Feindbild. Bei der EM verletzt sich die Russin zum Auftakt.

Ihr Comeback wird als eines der spektakulärsten in die Leichtathletik-Annalen eingehen. Julia Stepanowa hat am Mittwochabend bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Amsterdam ein Kapitel Sport-Geschichte geschrieben. Auch wenn die Russin nach 630 Metern mit schmerzverzerrtem Gesicht aufgab und humpelnd den Weg ins Ziel zurücklegte, war es ein besonderer Auftritt.

800-Meter-Läuferin Stepanowa hatte vom Weltverband IAAF wegen ihrer Enthüllungen über das russische Doping-System eine Sondergenehmigung erhalten und startete unter neutraler Flagge. Das sportliche Abschneiden war zweitrangig, allein der Start der berühmtesten Whistleblowerin der Leichtathletik war ein Symbol.

“Der Druck war sehr groß. Viele haben nicht an mich geglaubt”, sagte die 30-Jährige. “Es hat mir geholfen, dass mir im Umkleideraum Athletinnen gedankt haben für das, was ich getan habe.”

Feindbild in Russland

Die Verfasser von Agentenromanen wie Len Deighton oder John Le Carré hätten an Wettkämpfen in Amsterdam ihren Gefallen finden können. Das ganze Drum und Dran der weltweit beachteten Rückkehr der Julia Stepanowa auf die Tartanbahn erinnert an schon fast vergessene Zeiten, als sich Ost und West im Kalten Krieg beharkten. Heldin oder Verräterin? Für die einen hat sich die Mittelstrecklerin im Anti-Doping-Kampf mit ihren Aussagen über das Doping-System in Russland größte Verdienste erworben. Für andere ist sie ein Feindbild, weil sie wesentlich dazu beigetragen hat, dass Russlands Leichtathleten vom Weltverband suspendiert worden sind.

Seit Montag war sie in Amsterdam. An einem geheimen Ort. Nur ganz wenige Leute wussten Bescheid, wo sie sich aufhält. Es sei eine Vorsichtsmaßnahme, ließ sie verlauten. Schließlich gäbe es sehr viele Leute in Russland, die nicht schätzten, was sie getan habe.

Ihr Ehemann Witali Stepanow war früher Mitarbeiter der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada. Gemeinsam deckte das Ehepaar die Missstände in Russland auf. „Es gab ernste Bedrohungen, so dass sich Julia entschlossen hat, ohne ihren Ehemann und ohne ihren Sohn nach Amsterdam zu reisen“, sagte Patrick Magyar, Vizepräsident der Diamond-League-Serie. Der Freund des Ehepaars wies auch auf Julias Angst hin, dass ihr jemand etwas ins Essen oder in ein Getränk mische.

Bedrohungen aus der Heimat

Den Russen käme es gelegen, wenn Julia Stepanowa des Dopings überführt werde. Tatsächlich war Stepanowa wegen Unregelmäßigkeiten in ihrem Blutpass von 2013 bis 2015 gesperrt. „Es ist ein wichtiges Zeichen des internationalen Sports, dass Julia Stepanowa für ihr Risiko, Missstände in ihrem Land aufgezeigt zu haben, nicht weiter abgestraft, sondern ihr Mut honoriert wird“, sagte DLV-Präsident Clemens Prokop vor dem Start. Wegen einer Fußverletzung hatte Stepanowa in ihrem Exil in den USA nicht kontinuierlich trainieren können.

In Russland gibt es kein Verständnis für Stepanowa. Aber das Ehepaar betont, dass sich ihre Enthüllungen nicht gegen die Sportler richten. „Wir haben immer gesagt, dass es schade für die russischen Athleten ist“, sagte Witali Stepanow. „Wir führen keinen Kampf gegen sie, sondern gegen ein System. Wir wollen, dass Wettbewerbe in Zukunft gerechter sind.“

Julia Stepanowas Start bei den Olympischen Spielen müsste noch vom Internationalen Olympischen Komitee genehmigt werden. Nach einer ersten Diagnose eines Arztes kann die Verletzung schnell wieder auskuriert werden, so dass ein Start in Rio möglich wäre.