Hamburg.. 1991 stürzte Michael Stich Boris Becker im Wimbledon-Finale. Im Interview erinnert sich Stich: An die goldene Tennis-Ära und an sein Image.

Heiß ist es am 7. Juli 1991. Der Rasen in Wimbledon ist trocken wie Heu. Ganz Deutschland sitzt an diesem Sonntag vor dem Fernseher und wird Zeuge eines Diebstahls. Ein schlaksiger Kerl namens Michael Stich (22) bringt den großen Favoriten Boris Becker (23) um den nächsten Erfolg in seinem Wohnzimmer. Zwei deutsche Tennisspieler im Finale des bedeutendsten Turniers der Welt. – Zeitsprung: Michael Stich lehnt sich entspannt zurück. Sein Gewicht von damals hat er mit nun 47 Jahren fast gehalten. Heute kümmert er sich hauptsächlich um seine Michael-Stich-Stiftung, die sich für HIV-infizierte Kinder einsetzt. Er sitzt auf einer schwarzen Ledercouch in seiner Heimatstadt Hamburg und kramt in Erinnerungen. 25 Jahre liegt der größte Sieg seiner Karriere nun zurück.

Haben Sie Erinnerungsstücke an Ihren Wimbledonsieg aufbewahrt? Schläger, Schuhe, ein Stück des heiligen Rasens...

Michael Stich: Wenn ich Rasen mitgenommen hätte, hätte ich mich niemals wieder auf der Anlage blicken lassen können (lacht). Ich habe meinen Pokal, der steht im Arbeitszimmer, und ich habe als Andenken an das Turnier ein Programmheft vom mittleren Sonntag. Das ist etwas ganz Besonderes, denn 1991 wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Turniers auch an diesem Tag gespielt – weil die Tage davor so verregnet waren. Ich habe es mir von Boris (Becker, d. Red.) signieren lassen.

Hatte es für Sie eine ganz besondere Bedeutung, ausgerechnet gegen Becker im Finale zu spielen, in seinem Wohnzimmer?

Stich: Mir war es völlig egal, gegen wen ich spiele. Für mich war es das Größte, überhaupt dort zu stehen. Schon vor dem Finale war ich mir sicher, dass ich jetzt das Turnier auch gewinnen würde.

Was hat Sie da so sicher gemacht?

Stich: Man spürt so etwas. Ich hatte gewisse Rituale. Beispielsweise habe ich mich mit meinem Coach vor dem Match im Kleinfeld eingeschlagen. Ich war sehr selbstbewusst und wusste, dass es klappen wird. Ich hatte ein schwieriges Halbfinale gegen Stefan Edberg überstanden und davor im Viertelfinale gegen Jim Courier mein bis dahin wohl bestes Match des Turniers gespielt.

Gab es unmittelbar vor dem Finale Kontakt zu Boris Becker?

Stich: Wir haben „Hallo“ gesagt, mehr nicht. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Am Anfang des Turniers waren noch gefühlt 200 Leute in der Kabine, viele Spieler und Betreuer. Und an diesem Sonntag waren nur noch wir zwei Spieler da und unsere Trainer. Jeder in seiner Ecke.

Ganz Deutschland war aus dem Häuschen. So ein Traum-Endspiel beim wichtigsten Tennisturnier der Welt. Und das mitten in der goldenen deutschen Tennisära.

Stich: Diese Becker-Stich-Geschichte war vor allem ein Mediending. Boris war der Emotionale, ich der kühle Norddeutsche. Zu Rivalen wurden wir aber erst nach Wimbledon gemacht.

Dabei haben Sie kurz darauf sogar Seite an Seite gespielt.

 Stich: Im Jahr nach Wimbledon haben wir zuerst in Monte Carlo im Doppel gewonnen, wenig später dann bei den Olympischen Spielen in Barcelona. Wir wussten ja beide, was der andere kann.

Aber das Bild vom kühlen Norddeutschen ist geblieben.

Stich: Auch früher, ohne Facebook, Smartphones oder Twitter, wollten die Leute private Nachrichten bekommen. Aber ich habe nie Homestorys mitgemacht, deshalb war ich bei einigen Medien nicht gerade beliebt.

Wie präsent ist der Wimbledonsieg heute in Ihren Erinnerungen?

Stich: Es ist nicht so, dass ich mich jeden Abend mit einer Flasche Wein zurückziehe und zu mir selbst sage: „Mensch, weißt du noch…“ Der Wimbledonsieg ist zwar ein großer und wichtiger Teil meines Lebens, aber er prägt mein Leben heute nicht. Ich bin grundsätzlich niemand, der in der Vergangenheit lebt. Es ist auch nicht das Erste, das Menschen erwähnen, wenn sie mich treffen.

Stich: "Djokovic ist in der Form seines Lebens"

Haben Sie sich denn nach dem Sensationssieg etwas Besonderes gegönnt, eine Belohnung?

 Stich: Für mich war der Turniergewinn schon die größte Belohnung überhaupt. Von meinen Eltern bin ich so erzogen worden, dass Geld erst einmal auf das Konto kommt. Das hat sich später ausgezahlt. Als Sportler fand ich es aber toll, nach dem Wimbledonsieg mit einer Privatmaschine zum nächsten Turnier geflogen zu werden. Ich bin ja schon gleich in der darauffolgenden Woche in Gstaad angetreten. Das war auch genau richtig, denn es hat etwas Druck herausgenommen. Ich muss zugeben, dass ich im Jahr danach in einem kleinen Motivationsloch gesteckt habe.

Am Tag vor Ihnen hatte Steffi Graf den Titel bei den Damen gewonnen und das deutsche Tennisglück perfekt gemacht. Damals gingen Fotos um die Welt, Sie im feinen Zwirn und daneben Steffi Graf im roten Kleid beim Champions Dinner.

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Stich: Ich war auf diesen feierlichen Termin gar nicht vorbereitet. Ein Smoking musste für mich noch kurzfristig organisiert werden. Mein damaliger Manager Ken Meyerson ist als einziger im hellen Anzug beim Champions Dinner aufgetaucht (lacht). Es war ein ganz besonderer Abend. Traditionell kommen dort auch viele ehemalige Turniersieger hin. Unter anderem war Jean Borotra dabei, der in den 20er-Jahren Titel geholt hatte. Der alte Herr schaute mich an, wenige Stunden nachdem ich gewonnen hatte, und fragte: „Wer ist dieser Mann?“ – Solche Reaktionen relativieren einiges, auch wenn sie den Erfolg nicht schmälern.

Sie waren bei Ihrem Erfolg 22 – und damit fünf Jahre älter als Boris Becker bei seinem ersten Titel. Waren Sie ein Spätstarter?

Stich: Mit 17 Jahren wäre ich niemals in der Lage gewesen, solch ein Turnier zu gewinnen. Von meiner Persönlichkeit war ich noch längst nicht so weit, in die Welt hinauszugehen, ich wollte ja noch nicht einmal Tennisprofi werden. Boris war mit 17 auch körperlich schon viel weiter als ich in dem Alter.

Heute sind viele Top-Spieler auch schon etwas älter. Angelique Kerber war 28, als sie in Australien gewonnen hat. Wie kommt das?

Stich: Der Sport ist noch athletischer geworden. Die Spieler müssen physisch so stark sein, dass sie das mit 17 oder 18 meist noch gar nicht erreichen können. Sie brauchen länger. Ein Djokovic ist erst jetzt, mit Ende 20, in der Form seines Lebens. Nehmen wir Alexander Zverev: Ich halte ihn für unglaublich talentiert und traue ihm viel zu. Aber körperlich ist er mit seinen 19 Jahren sicherlich noch nicht in der Lage für den ganz großen Titel.

Werden Sie in Ihrem Jubiläumsjahr Wimbledon besuchen?

Stich: Ich fahre jedes Jahr hin. Dieses Mal schaue ich mir wahrscheinlich zwei Tage an. Alle Turniersieger werde automatisch Mitglied im All England Lawn Tennis & Croquet Club. Mit dem dazu gehörenden Button öffnet sich dort jede Tür (lacht).