London. Großbritannien schickt zwei Handball-Mannschaften ins olympische Turnier. Beide treten eigentlich ohne jede Chance an. Die Mannschaften sollen versuchen, die Begeisterung zu wecken. 2005 war die Sportart für die Mehrheit der Menschen auf der Insel ein einziges Mysterium.
Als sei es Normalität für sie. Jedesmal, wenn die Hallensprecherin den Namen einer der britischen Handballerinnen aufruft, tritt diese einen Schritt aus der Reihe, winkt ins Publikum und tritt wieder einen Schritt zurück. So, wie es alle Mannschaften dieser Welt bei ihrer Vorstellung machen – nur, die meisten schauen anders in die Kamera.
Ernst, konzentriert, vielleicht mal schwach lächelnd werden deren Gesichter dann auf irgendwelche Videowände geworfen. Lynn McAfferty, Kathryn Fodges, Lyn Byl und Co. allerdings grinsen fast bis zu den Ohren. Voller Rührung ob der Beifallsstürme von den Tribünen, ergriffen, diesen außergewöhnlichen Augenblick zu erleben. Die eine oder andere in den Augen schimmernde Träne zeugt davon. „Das war eine unglaubliche Erfahrung“, sagt Byl, die Wuppertalerin mit englischer Mutter, später.
Warum das Vorspiel der Vorrunden-Begegnung zwischen Montenegro und Großbritannien (31:19) so große Gefühle erzeugt? Die Antwort auf diese Frage beginnt 2005 mit der Entscheidung pro London als Ausrichtungsort der Olympischen Spiele 2012. Denn damals reifte bei den Gastgebern der Entschluss, auch im Handball Mannschaften stellen zu wollen.
Der britische Verband suchte 2005 zuerst im Ausland
Es gab allerdings kein Nationalteam – die Sportart war für die Mehrheit der Menschen auf der Insel ein einziges Mysterium. Einen kleinen Ball in ein Tor zu werfen? Und dabei mit einem Bein abzuspringen? Unvorstellbar.
Also suchte der britische Verband neben den wenigen bereits wie Byl im Ausland aktiven Spielerinnen potenzielle neue. „Ich kann mich an ein Probetraining in Nottingham erinnern“, erzählt Nationaltrainer Jesper Holmrist, „bei dem waren 120 Athletinnen, aber keine kannte die Regeln.“ Das Projekt 2012 – es schien zwischenzeitlich schier so unmöglich zu sein, wie die bemannte Raumfahrt zur Sonne.
Trotzdem klettert es mit dem Start der Olympischen Spiele auf die nächste Stufe. Nun gilt es, die Begeisterung derart zu wecken, dass sich Sponsoren finden, die seine Zukunft finanzieren. Die Qualifikation zur WM wird bereits ohne Großbritannien ausgetragen, weil dem Verband das Geld fehlte. Ihr 14-monatiges Trainingslager in London vor den Spielen zahlten die Handballerinnen zum größten Teil aus der eigenen Tasche.
„Es ist toll, was die meisten Spielerinnen für ihren Traum Olympia aufgegeben haben“, sagt Holmrist. „Es muss einfach weitergehen“, erzählt Lyn Byl, „wir haben so viele junge Spielerinnen.“ Viele Hallen seien in Großbritannien gebaut worden, sogar in den Schulen werde Handball gelehrt.
Für die 32-jährige Kreisläuferin allerdings bedeutet das Turnier im Zeichen der fünf Ringe voraussichtlich das Karriereende. „Ich kehre nach Deutschland zurück und arbeite wieder als Physiotherapeutin“, sagt sie. „Es sei denn, ich bekomme irgendwo einen Vertrag, durch den ich erstmals vom Handball leben kann.“
Hoffnung auf einen Überraschungssieg
So einen Kontrakt wünscht sich auch Christopher Mohr, einst Jugendspieler des hessischen Bezirks-Oberligisten TSG Offenbach Bürgel und deutscher Sohn einer schottischen Mutter. 2. Bundesliga – das wär’s. Dort spielte der 22-Jährige bereits für kurze Zeit, als Tusem Essen das Geld ausging und der jetzige Erstligist mit Mohr sowie fünf weiteren Briten die Saison zu Ende bestritt. Denen kamen die Essener Sorgen gerade recht, schließlich hatte ihr Verband die Herren kurz zuvor aus dem dänischen Internat zurückbeordert – weil ebenfalls finanzielle Mittel fehlten.
Auch dieser kurze Ausflug in die Semi-Professionalität ändert jedoch nichts daran: Bei den Olympischen Spielen hoffen britische Männer wie Frauen als Handball-Pioniere auf eventuell einen Überraschungssieg. Ansonsten aber verkörpern sie das Olympische Motto: Dabei sein ist alles. Lyn Byl sagt trotzdem: „Dieses Projekt war das Beste, was mir passieren konnte.“