London. Die Legende des blinden Bogenschützen ist zerstört. Der Südkoreaner Im Dong-Hyun verliert mit der Mannschaft das Halbfinale gegen die USA und holt später Bronze gegen Mexiko. Der Mythos um seine Sehschwäche oder Fast-Blindheit klärte sich allerdings anschließend auf.
Es ist am Anfang nur so ein Gefühl. Irgendetwas an dem ganzen Bild stimmt nicht.
Der Südkoreaner Im Dong-Hyun steht auf dem Rasen und spannt den Bogen. Er schießt. Der Pfeil, der aus Karbon und Aluminium besteht, ist nicht zu sehen. Auf der Tribüne ist nur das „Plop“ zu hören, mit dem er 70 Meter weiter die Schiebe durchschlägt. Eine Zehn, die Höchstwertung.
Im Dong-Hyun dreht sich zur Seite. Er bleibt konzentriert. Ein Mann mit der Nervenstärke eines Minenräumkommandos, keine Regung. Das Publikum flüstert. Der Südkoreaner soll fast blind sein. Trotzdem hat er 2004 in Athen und 2008 in Peking schon Gold gewonnen. Er hält den Weltrekord und hat sechs Weltmeister-Titel geholt.
Das Flüstern wächst zum Raunen und flattert durchs Stadion. Wie trifft jemand die Scheibe, der so gut wie gar nichts sieht?
Die (Sport-)Welt ist verrückt
Um bei Olympia in London Aufmerksamkeit zu erregen, reicht es kaum noch aus, ein guter Sportler zu sein. Die Geschichten werden immer absurder. So startet der Südafrikaner Oscar Pistorius über 400 Meter, er hat keine Beine und läuft mit Prothesen. Über 800 Meter ist Caster Semenya dabei, das südafrikanische Mädchen, das vielleicht ein Mann sein soll. Und unten auf dem Rasen will ein blinder Bogenschütze sein drittes Gold. Die Welt ist verrückt.
Doch der goldene Plan von Im Dong-Hyun geht nicht auf. Mit der Mannschaft aus Südkorea verliert der 26-Jährige das Halbfinale gegen die USA. Der anschließende 224:219-Sieg gegen Mexiko bringt Bronze. Zehn Minuten später steht er im Clubhaus des Lord’s Cricket Grounds. Die englischen Cricket-Spieler haben ihr Heiligtum, das im Jahr 1834 gebaut wurde und in dem sie ihre Länderspiele austragen, für Olympia den Bogenschützen anvertraut.
Das Backsteingebäude mit den Ehrentafeln an den Wänden ist ein Ort der Gentlemen. Kurze Hosen sind verpönt, Frauen haben nur in Blusen Zutritt, und Lügengeschichten finden an dieser Stelle keinen Platz.
Der Blick auf die Uhr schafft Klarheit
Im Dong-Hyun lächelt. Um seinen Hals baumelt eine Kette aus grünen und orangen Glasperlen. Und aus der Nähe wird nun plötzlich klar, was an dem ganzen Bild nicht stimmt. Der 26-Jährige trägt eine silberne Armbanduhr. Wer blind ist, kann mit einer normalen Armbanduhr nichts anfangen.
Beim Schießen um Bronze hat er seinen Wettkampf gerade aufgebaut wie ein sorgfältiger Zimmermann einen Dachstuhl: Ruhig und konzentriert. Wenn er den Bogen hält, hat er Hände aus Honig. Wenn er über seine Kunst reden soll, wirkt er schüchtern. 100 Kilo bei 1,84 Metern Größe lassen ihn tapsig wirken. Mehr Bruder Tack als Robin Hood. Er spricht nur Koreanisch, und die Dolmetscherin übersetzt asiatisch zurückhaltend.
Doch bei Olympia prallen oft Welten aufeinander, und so fragt ein US-Journalist gnadenlos direkt: „Haben Sie eigentlich einen Führerschein?“ Eine rhetorische Frage, die als Witz gedacht war. Vielleicht für einen lustigen Einstieg in den Text, doch Im Dong-Hyun antwortet: „Ja, habe ich.“ Zehn Sekunden Schweigen. „Und Sie haben auch ein Auto?“ „Ja, habe ich.“ „Und Sie fahren mit dem Auto?“ „Ja, und ich hatte noch nie einen Unfall.“ Schweigen. Im Dong-Hyun schiebt einen Satz nach, der in den Worten der Übersetzerin unfreiwillig komisch klingt: „Ich sehe beim Autofahren keine Probleme.“
Die Legende des blinden Bogenschützen ist zerstört
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Im Dong-Hyun wollte genau das. „Es werden viele falsche Dinge über mich erzählt“, sagt er. „Ich habe keinen Blindenhund und keinen Stock, und ich bin auch nicht behindert. Ich brauche zum Lesen der Zeitung eine Brille, aber das geht Millionen Menschen nicht anders.“
Die Legende um seine Augen entstand, als er 2004 mit 18 Jahren als damals jüngster Bogenschütze bei Olympia auftauchte. Er berichtete von seiner Sehschwäche, dass er aber trotzdem lieber ohne Brille schieße, weil eine Brille ihn nur stören würde. Er erklärte, wie er das Ziel anvisiert, nämlich über die Farben der Scheibe. „Es sieht für mich aus, als wären verschiedene farbige Bilder ins Wasser getaucht worden.“
Mythos verselbstständigte sich
Der Mythos wurde geboren und verselbstständigte sich. Aus der Sehschwäche wurde eine Fast-Blindheit. Was in der Geschichte fehlte: Fast alle Bogenschützen benutzen die Farben. Am Ende ist das Zielen nämlich nicht allein eine Sache des Erkennens, sondern ein Zusammenspiel aus Konzentration, Gefühl und Bewegungsablauf. Doch dies passte nicht in die Geschichte eines blinden Schützen.
Der 26-Jährige lächelt weiter sein sanftes Lächeln. Er ist sparsam mit Gefühlsregungen, fast so, als stünden ihm bei Olympia nur eine bestimmte Anzahl davon zur Verfügung. Dann verabschiedet er sich von allen per Handschlag. „Entschuldigen Sie, ich habe in London noch etwas vor.“ Er will am Freitag doch noch sein Gold gewinnen. Im Einzel. Damit das Bild von den weltbesten Bogenschützen aus Korea am Ende doch noch stimmig ist.