Berlin/Tokio. Ronald Rauhe hat den Kanu-Rennsport geprägt wie wenige vor ihm. Bei Olympia in Tokio soll ihm ein goldener Karriereabschluss gelingen
Sicher kommen diese Momente hin und wieder. Schließlich wird er oft genug danach gefragt, daran erinnert, dass dieser Auftritt sein letzter ganz großer werden wird. Aber viel Platz für Wehmut möchte Ronald Rauhe der Situation gar nicht einräumen. Er schaut zielstrebig nach vorn. Alle drei WM-Titel gewann er mit dem Kajakvierer vor den Olympischen Spielen in Tokio, da spielt es jetzt weniger eine Rolle, dass der Kanute seine Karriere anschließend beenden wird. Es geht vor allem um das Gold, das er mit seinen Kollegen holen will. Den Fakt des Abschieds nimmt er dabei eher als motivierendes Element. „Ich denke, dass ich da Kräfte mobilisieren kann, von denen ich vielleicht nicht weiß, wo sie herkommen“, sagt Rauhe.
Ein letztes Mal alles geben, die ohnehin grandiose Karriere krönen. Und dann erst einmal nichts machen. Ausruhen. „Dazu muss ich mich zwingen, um meinen Körper zu regenerieren. Er braucht das, das merke ich. Auch mein Kopf. Das muss ich mir einfach mal einräumen“, erzählt der Ausnahmeathlet, dessen Boot in der Nacht zum Freitag in den Vorlauf startet. Mit 39 Jahren lassen sich die Strapazen den Kanu-Rennsports nicht mehr so einfach wegstecken. Aber sie halten den gebürtigen Berliner auch nicht davon ab, seinen Maximen treu zu bleiben.
Der Ehrgeiz zeichnet Ronald Rauhe aus
Seine Prinzipien waren ein wichtiger Aspekt dafür, dass Rauhe in diesem überaus anstrengenden Sport so lange durchgehalten hat. „Ich bin sehr selbstkritisch, kann mich selbst sehr gut reflektieren“, sagt der Athlet, der in Falkensee lebt und für den KC Potsdam startet. Er sucht lieber nach Fehlern, als sich zufrieden zu geben mit dem, was er erreicht hat. Der Ehrgeiz, sich stetig zu verbessern, sich niemals Stillstand zu genehmigen, das zeichnet Ronald Rauhe aus.
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Selbst in seiner letzten Saison orientierte sich der Kanute wie immer an seinen Bestzeiten, um zu überprüfen, ob sein Weg stimmt. Um seine Weiterentwicklung zu dokumentieren. „Diese Challenge habe ich mit mir selbst. Ich will immer in dem besten Zustand antreten, den ich je hatte“, erzählt er. So gelang es ihm, seine Karriere trotz sehr unterschiedlicher Phasen immer erfolgreich zu gestalten. 2004 Olympiasieger zu werden, dazu eine silberne und zwei bronzene Medaillen zu gewinnen. 16 Mal Weltmeister zu werden, 17 Mal Europameister, 67 Mal deutscher Meister. „Da bin ich auf jeden Fall Rekordhalter“, sagt Rauhe über die nationalen Titel.
Um Rekorde ging es ihm aber nie, sondern darum, seinen Weg zu verfolgen. Egal ob im Zweier über 500 Meter, im Einer, im Sprint oder wie jetzt im Vierer. Das sind die vier großen Abschnitte seiner Laufbahn. „Ich musste mich oft neu orientieren, teilweise neu erfinden, mich selbst in Situationen zurechtfinden, in denen mir keiner geholfen hat“, sagt Rauhe, der in Haselhorst aufgewachsen ist und dort auch mit dem Paddeln angefangen hat. Die Wechsel der Boote und Strecken brachten stets neue Anreize, hielten die Lust am Wettkampf aufrecht.
Ronald Rauhe: Durchbruch mit Tim Wieskötter
Seinen Durchbruch erlebte Rauhe zusammen mit Tim Wieskötter, über Jahre dominierten sie im Zweier die 500 Meter, gewannen drei seiner vier olympischen Medaillen. „2008 haben wir uns nach Silber extrem geärgert und wollten das richtigstellen“, erinnert sich Rauhe. Doch Wieskötter erkrankte, Rauhe stieg in den Einer um, wurde 2009 Weltmeister, um anschließend zu erfahren, dass die olympische Strecke von 500 auf 200 Meter gekürzt wird. „Das Jahr im Einer war sehr prägend für mich, weil ich in der Weltspitze Fuß fassen konnte“, so der Mann mit dem explosiven Schlag, der es anschließend im Sprint versuchte, viel probieren musste, weil alle von dem Wechsel auf die kurze Distanz überrascht waren und niemand genau wusste, wie man die neue Aufgabe angehen sollte.
Rauhe passte sich an, sprintete 2012 und 2016 bei den Spielen. Zunächst ohne Fortune, dann trotz Fokus auf den Zweier mit Tom Liebscher (Dresden) mit Bronze in Rio im Einer. Die erneute Veränderung des olympischen Programms brachte dann eine Perspektive, die den Sportler dazu bewegte, länger im Boot zu bleiben als ursprünglich geplant. Zu sehr harmonierte der Vierer auf den 500 Metern, zu groß erschien die Chance auf einen letzten olympischen Gold-Coup in Tokio. An zweiter Stelle hinter Max Rendschmidt (Essen) sitzend gibt er den Rhythmus an das Hinterschiff mit Liebscher und Max Lemke (Mannheim) weiter, ist für die Taktik verantwortlich.
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Und als Ältester auch dafür, dass es menschlich im Boot gut läuft. „Dort sitzen vier ganz verschiedene Charaktere drin, sodass es manchmal echt kracht. Das macht mir aber auch Spaß, es fordert mich auf anderer Ebene heraus“, so Rauhe, der nach über zwei Jahrzehnten im Kanu nun loslassen muss und ein komplett neues Leben anfangen: „Das flößt mir Respekt ein.“
Genaue Pläne gibt es nicht, Ideen hat er dennoch viele. Zunächst aber rückt das Private in den Vordergrund, die Familie. Zusammen mit Fanny Fischer, Kanu-Olympiasiegerin von 2008, hat er zwei Kinder. Der ältere Sohn erlebt am 7. August daheim seine Einschulung. Vater Ronald kämpft an diesem Tag in Tokio um Olympiagold. Ein letztes Mal. „Wenn das durch ist, wird mit Sicherheit etwas mit mir passieren“, sagt Rauhe. Dann wird mehr als nur Wehmut im Spiel sein.