Tokio. Noch überwiegt die Ablehnung der Olympischen Spiele in Japan. Doch die Erfolge der Nationalhelden sorgen für Euphorie - und hohe Einschaltquoten.

Wer durch eine der Flügeltüren den Nippon Budokan betritt, dem weht neben einem kalten Hauch der Klimaanlage auch eine große Portion Ehrfurcht entgegen. Auf den grünen, roten, gelben, blauen Sitzschalen haben schon Menschen gesessen, als Judo 1964 olympisch wurde und zwei Jahre später die Beatles ein Konzert in Tokio gaben.

Nun sitzen hier so viele Volunteers rund um das Oktagon, dass man um die ordnungsgemäße Austragung an anderen olympischen Wettkampfstätten fürchten muss. Shohei Ono steht im Finale der Klasse bis 73 Kilogramm, Minuten später ist Japans nächstes Gold perfekt. „Der Budokan ist die heilige Stätte des Judos. Ich weiß nicht, wie viele Gelegenheiten ich noch bekomme, so einen Kampf hier zu erleben“, sagt der seit 2015 unbesiegte 29-Jährige, nachdem er eine Medaille um den Hals baumeln und zwei Verbeugungen gemacht und hat. Eine vor dem Gegner und eine vor der japanischen Kultur.

Millionen-Publikum schaut bei Judo-Kämpfen zu

Der Judosport könnte dem Internationalen Olympischen Komitee sowie den Gastgebern in die Karten spielen und Japan doch noch zum Land der aufgehenden Wonne werden lassen. Auch wenn im Inselreich die Ablehnung gegen die Olympischen Spiele überwiegt, helfen Japans Nationalhelden gerade dabei, dass die Stimmung kippen könnte. Am Auftaktwochenende haben Naohisa Takato sowie die Zwillinge Uta und Hifumi Abe Gold abgeräumt, am Montag legte Ono nach. Japans Ministerpräsident Yoshihide Suga beglückwünschte den emotional aufgelösten Takato und sagte: „Ich denke, viele waren bewegt, die Tränen eines Mannes nach dem Wettkampf zu sehen.“ Der Olympiasieger antwortete: „Ich bin sehr dankbar, dass die Olympischen Spiele stattfinden konnten.“

In die Falle getappt: Shohei Ono (blauer Anzug) wirft Alexandru Raicu zu Boden.
In die Falle getappt: Shohei Ono (blauer Anzug) wirft Alexandru Raicu zu Boden. © AFP/Getty Images | Getty Images

Wasser auf den Mühlen des Ringe-Ordens. Dreht sich nun auch medial der Wind? „Auch wenn es keine Zuschauer gab, konnten bewegende Momente von jedem am Fernseher bestaunt werden. Viele Zuschauer werden nun mit Freude den Rest der Spiele verfolgen“, kommentierte am Montag die größte Tageszeitung des Landes, Yomiuri. Auch das Blatt Asahi griff das goldige Wochenende in Schlagzeilen auf, behielt sich aber seine nachdenkliche Position: „Bis jetzt gibt es mehr Fragen als Antworten.“ Laut Suga war die Eröffnungsfeier „die meistgesehene Fernsehübertragung seit über zehn Jahren in Japan“. Das IOC untermalte diese Aussage mit Zahlen: Am Samstag hätten mehr als 100 Millionen Japaner die Wettkämpfe an den unterschiedlichsten Bildschirmen verfolgt. Das sind vier Fünftel der Bevölkerung.

Judo ist in Japan Pflichtfach

Die Judoka verstehen es prächtig, den Funken in Japan überspringen zu lassen. Seelenlose Spiele? Nicht auf den offiziell zuschauerbefreiten Rängen im geschichtsträchtigen Budokan. Von Tokio 1964 bis Rio 2016 holten die Judoka 40 der insgesamt 142 japanischen Goldmedaillen. Ono gelang nun das Kunststück, seinen vor fünf Jahren gewonnen Titel zu verteidigten. Freude zu verbergen, fällt dem 29-Jährigen normalerweise leicht, doch diesmal strahlte selbst der Superstar. „Olympia ist kein Platz für Freude. Für mich ist es ein Schlachtfeld, auf dem es um Leben oder Sterben geht“, sagt er martialisch.

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Die 126 Millionen Japaner sind äußerst patriotisch. Beim Judo die nationale Ehre zu verteidigen, erfüllt sie mit Stolz. Auch wenn Fußball und Baseball zuschauerträchtiger sind, kommt die gesamte Bevölkerung mit dem Sport in Berührung: In der Schule ist er Pflichtfach. Da verwundert es sehr, dass ihn am Ende nur noch rund 160.000 Menschen aktiv ausüben – der Deutsche Judo-Bund zählt 134.000 Mitglieder in seinen Vereinen. In Japan indes geht man auch danach in Schulen. Die bedeutendste ist der Kodokan (wörtlich: Halle zur Lehre des Weges) im Tokioter Stadtteil Bunkyo. Gegründet wurde er von Jigoro Kano, der 1882 auch den sanften Weg, wie Judo übersetzt heißt, als körperliche, geistige und moralische Lehre auf Basis des Kampfsports Jiu-jitsu schuf.

Was mit einer Verbeugung beginnt und endet – nach dem obligatorischen Gong –, hat nichts mit offensiven Angriffen zu tun. Siegen durch Nachgeben ist das Motto. Bevor gekämpft wird, lernen die Schüler zu fallen. Es wird nicht geschlagen und getreten; es geht darum, Kräfte umzuleiten und Sekundenbruchteile für den Erfolg zu nutzen.

Superstar Shohei Ono – der Mozart der 73-Kilo-Klasse

Für seinen klaren, exquisiten Kampfstil wird Shohei Ono auch der Mozart der 73-Kilo-Klasse genannt – aus seinem Mund unter dem Stoppelhaarschnitt kommt allerdings eher Rammstein. „Ich will meinen eigenen Stil demonstrieren“, sagte der dreimalige Weltmeister aus dem westlich gelegenen Yamaguchi vor dem olympischen Turnier. „Ich will auf den Budokan-Matten eine Leistung bringen, die die Leute an das gute alte japanische Judo erinnert.”

Das tat Shohei Ono im Finale gegen Lascha Schawdatuaschwili. Er taktierte, wartete die eine Gelegenheit ab, um den Georgier nach 9:26 Minuten, mehr als die doppelte normale Kampfzeit von vier Minuten, zu Fall zu bringen. Die Volunteers auf dem oberen Rang brüllten heraus, was die Maske nicht zurückhielt. Bis zum Ende der Wettbewerbe am Samstag bieten sich dem Gastgeberland noch neun weitere Chancen auf Gold. Japan wird sich noch einige Male vor seinen Helden verbeugen.

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