Duisburg. Vor genau 50 Jahren holte die MSV-Legende den EM-Titel – auf eine sehr ungewöhnliche Weise in einem heute vergessenen Turnier.

Der Morgen vor dem Halbfinale verhieß nichts Gutes. Dichte Wolken hingen über Opatja. Das Regenwasser floss von den Palmen herab und die Sonne war kaum zu sehen. Tags darauf sollte es herüber gehen ins malerische Kantrida-Stadion von Rijeka, umsäumt von einer Steinbruchkante und der Adria, an deren Küste es unmittelbar liegt. Doch von dieser Schönheit war kaum etwas zu sehen. Das hatte mit Fritz-Walter-Wetter nichts mehr zu tun. Doch Rudi Seliger und Co. waren auf ihrem Weg. Sie wollten Europameister werden. Vor nun genau 50 Jahren.

Und das ist kein Rechenfehler! Ende April 1974 ging es um die Fußball-Europameisterschaft. Die der Amateure nämlich. „Damals konnte man als Amateur in der Bundesliga spielen“, erklärt Rudi Seliger, der 1971 von Eintracht Duisburg aus der Verbandsliga zum MSV Duisburg gekommen war. Auch sein Teamkollege Werner Schneider war mit von der Partie.

28.000 Zuschauer gegen England

Wie in den Anfangstagen der „großen“ Fußball-EM gingen die Spiele bis zum Halbfinale immer bei einer der beteiligten Mannschaften über die Bühne. Erst die besten vier Teams fanden sich an einem Finalort zusammen. Die deutsche Mannschaft galt als Favorit, sollte nach dem EM-Sieg von 1972 nun auch den Titel des Amateur-Europameisters nach Deutschland holen. Zum Team gehörten Spieler der Bundesliga und der damals zweitklassigen Regionalliga.

Dieses Turnier, das zwischen 1967 und 1978 nur viermal ausgetragen wurde, war eine große Sache. Den Gruppensieg in der Vorrunde sicherte sich die DFB-Elf daheim in Bielefeld gegen England. 28.000 Zuschauer bejubelten den 3:1-Sieg, bei dem Rudi Seliger über die rechte Seite so viel Druck machte, dass die englische Abwehr keine Mittel mehr fand.

Rudi Seliger bei der Auszeichnung für das Lebenswerk, hier mit Moderator Bülent Aksen (links) und Oberbürgermeister Sören Link, bei der Duisburger Sportschau 2022 im Theater am Marientor.
Rudi Seliger bei der Auszeichnung für das Lebenswerk, hier mit Moderator Bülent Aksen (links) und Oberbürgermeister Sören Link, bei der Duisburger Sportschau 2022 im Theater am Marientor. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Doch schon im Halbfinale machte sich das Wetter im damaligen Jugoslawien bemerkbar. Die „Platzverhältnisse und die immer härter einsteigenden Holländer“, wie es damals in der Berichterstattung hieß, machten es den Deutschen schwer. So gelang dem DFB-Team gegen die Niederlande erst 75 Sekunden vor dem Ende der Verlängerung das Tor zum 1:1. Schon im Spiel und dann auch im Elfmeterschießen (4:2) wurde der in der 31. Minute verletzungsbedingt eingewechselte Torhüter Jupp Koitka aus Wattenscheid zum Matchwinner. Seliger hatte seinen Elfer verschossen, aber Bundestrainer Jupp Derwall nahm es locker: „Besser schlecht gespielt und gewonnen als gut gespielt und verloren.“ Recht hat er.

„Das war unglaublich. Man ist mit den Schuhen regelrecht in den Platz eingesunken.“

Rudi Seliger
MSV-Legende - über die Zustände beim Finale der Amateur-EM 1974

Doch das Wetter wurde immer schlimmer. Es schüttete aus Kübeln. Und das Spiel um Platz drei zwei Tage später verwandelte den Rasen von Rijeka in einen Acker. „Das war unglaublich. Man ist mit den Schuhen regelrecht in den Platz eingesunken“, berichtet Seliger. So ähnlich wie einige Wochen später bei der legendären Wasserschlacht von Frankfurt im WM-Spiel gegen Polen? „Nein, das war nicht zu vergleichen“, unterstreicht die MSV-Legende. „In Frankfurt blieb der Ball zwar immer wieder liegen, aber man konnte irgendwie spielen. Daran war in Rijeka überhaupt nicht zu denken.“

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Das sah dann auch der Schiedsrichter so – und sagte das Finale ab! Und jetzt? So machte Finalgegner Jugoslawien den Vorschlag, man solle sich den EM-Titel doch einfach teilen. Die deutsche Delegation stimmte zu und auch UEFA-Generalsekretär Hans Bangerter gab seinen Segen. So liefen beide Teams doch noch ins Stadion ein. Es gab einen Wimpel- und Trikottausch – und die Pokalübergabe an beide Kapitäne. „Das war schon ein komisches Gefühl, einfach ohne Finalspiel wieder abzureisen“, erinnert sich Seliger. „Ich kann gar nicht mehr sagen, was der Grund war, warum wir nicht ein, zwei Tage länger geblieben sind und später gespielt haben.“ Auch die 3000 Zuschauer, die trotz des Wetters gekommen waren, waren stinksauer. Im Bericht von vor 50 Jahren heißt es, sie „pfiffen, grölten, warfen schließlich Sitzkissen und belagerten später auch noch die Mannschaftsbusse.“

„Ich war schon im Urlaub auf Ibiza, als ich einen Anruf vom DFB bekam, ich solle mich bereithalten.“

Rudi Seliger
über die Vorkehrungen des DFB im Rahmen des Prämienstreits bei der WM 1974

Rudi Seliger nahm es pragmatisch: „Ich habe später immer erzählt, dass wir Europameister geworden sind.“ Und das stimmt ja auch. Der Pokal wanderte für zwei Jahre in die DFB-Vitrine und wurde zwei Jahre später absprachegemäß an die Jugoslawen übergeben.

Ein paar Wochen später hätte Seliger dann beinahe auf ganz großer Bühne gespielt. „Ich war schon im Urlaub auf Ibiza, als ich einen Anruf vom DFB bekam, ich solle mich bereithalten“, berichtet der MSV-Star. Während des berühmten Streits um die Prämien bei der WM 1974 sicherte sich der Verband ab und sorgte dafür, dass ein Team auf dem Platz stünde, sollten die Spieler der A-Nationalmannschaft wirklich streiken.

Für Rudi Seliger (3. von links) und Co. lief es bei Olympia 1972 zunächst gut. Die Niederlage gegen die DDR sorgte dann aber für das Aus. Links neben ihm: Jürgen Kalb und Bernd Nickel.
Für Rudi Seliger (3. von links) und Co. lief es bei Olympia 1972 zunächst gut. Die Niederlage gegen die DDR sorgte dann aber für das Aus. Links neben ihm: Jürgen Kalb und Bernd Nickel. © imago

Doch auch Rudi Seliger hatte seinen ganz großen Auftritt mit der Amateur-Nationalmannschaft – und das schon zwei Jahre zuvor. Denn dieses Team bestritt, so lange es existierte, auch die Olympischen Spiele. In der ersten Gruppenphase von München 1972 ließen die Deutschen nichts anbrennen, besiegten Malaysia vor 60.000 Zuschauern mit 3:0, die USA vor 65.000 Zuschauern mit 7:0, in beiden Spielen traf „Ruuuudi“ Seliger. Außerdem gab es noch ein 3:0 gegen Marokko. „Ich kann mich noch gut erinnern, wie heiß es damals war. Aber für die Fans und uns war das eine große Sache.“ In der zweiten Gruppenphase „hatten wir dann Pech“, so Seliger. Gegen Mexiko gab es noch ein 1:1. Es folgten Niederlagen gegen Ungarn (1:4) und die DDR (2:3). Das deutsch-deutsche Duell im Olympiastadion sahen seinerzeit 80.000 Fans. Hätten die Kicker der Bundesrepublik gewonnen, wären sie anstelle der DDR ins Spiel um Bronze eingezogen.

Angebot für Rudi Seliger aus Barcelona

Und wer weiß, was die Karriere für Rudi Seliger noch bereitgehalten hätte, hätte ihm sein Rücken nicht solche Probleme bereitet. Zweimal, 1974 und 1976, lief er für die A-Nationalmannschaft auf. „Gegen Wales in Dortmund hätte ich noch einmal spielen sollen“, berichtet Seliger von jenem 14. Dezember 1977. Doch er musste draußen bleiben. „Die Ärzte wussten erst nicht, was los war“, sagt Seliger, der dann hinterherschiebt: „1978 hätte ich nach Barcelona gehen können, aber auch das ging dann nicht mehr.“ Eine Weltkarriere beim katalanischen Spitzenclub? „Ich habe über dieses Angebot dann so gut wie nicht mehr gesprochen.“ 1979 wurde er schließlich an der Bandscheibe operiert.

So blieb er noch bis 1983 beim MSV, ehe er seine Laufbahn in Speldorf, Bocholt, Velbert und Lobberich ausklingen ließ. Dann wieder so, wie er sie begonnen hatte. Als Amateur.

Vier Duisburger bei Olympia 1972

Bei den Olympischen Spielen liefen gleich vier Duisburger für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Amateure auf. Neben Rudi Seliger, der im Turnierverlauf zwei Tore für Deutschland erzielte, war auch Ronny Worm mit von der Partie. Auch er reihte sich in die Liste der Torschützen ein. Wie Seliger traf auch Worm im Auftaktspiel gegen Malaysia.

Friedhelm Haebermann spielte nicht beim MSV, stammt aber aus Duisburg. Er begann beim VfvB Ruhrort/Laar und wechselte später zu Eintracht Duisburg. Von 1969 bis 1978 spielte er schließlich für Eintracht Braunschweig. Der Vierte im Bunde ist Reiner Hollmann, der im seinerzeit noch nicht zu Duisburg gehörenden Walsum geboren wurde. Er spielte unter anderem für Eintracht Duisburg, Rot-Weiß Oberhausen und Eintracht Braunschweig.