Melbourne. Titelverteidiger Sebastian Vettel geht nicht mehr als der Dominator der vergangenen Jahre in die neue Saison der Formel 1. Aufgrund der technischen Neuerungen hat Vettel mit seinem Red Bull einen Rückstand gegenüber einigen Konkurrenten. Dennoch plant er die Flucht nach vorn.
Sebastian Vettel probiert das neue Reglement der Formel 1 schon an sich selbst aus: Sein Lächeln beim ersten öffentlichen Auftritt vor dem Großen Preis von Australien ist sparsam, äußerst sparsam. Für die Premiere einer neuen Rennwagengeneration, die noch voll technischer Kinderkrankheiten steckt, hat sich der Weltmeister vom Dauer-Optimisten zum Rationalisten gewandelt. „Zwölf Autos“, tippt er, „werden am Sonntag die Zielflagge sehen.“ Mit etwas Glück kann auch sein RB 10 dabei sein, die bislang größte Zicke der Testsaison. „Suzie“ hat er sie getauft, in der Hoffnung, dass keine Heul-Suse daraus wird.
Die erste Frage auf dem Podium im Albert Park muss einer, der die letzten neun Formel-1-Rennen hintereinander gewonnen hat, gleich als Majestätsbeleidigung auffassen: So richtig optimistisch können Sie nicht sein, oder? Der 26-Jährige nimmt bei seiner Antwort Tempo aus dem Thema, wirkt bedächtig: „Das ist jetzt nicht fair, denn das Jahr ist lang. Ich erinnere mich, dass Fernando Alonso vor zwei Jahren hier anderthalb Sekunden hinter mir lag – und im Finale hätte er mir doch fast den Titel abgejagt.“ Damit ist klar: Red Bull spielt vor dem ersten der 19 Rennen schon auf Zeit. Der Motorenhersteller Renault muss an der Software arbeiten, Chassisbauer Adrian Newey den Hitzestau im Heck lindern. Das ist die Wunschliste. „Aber im Grunde“, sagt Vettel, „weiß doch keiner, was er erwarten soll von dieser neuen Formel 1.“
Vettels Zorn muss riesig sein
Das Turbo-Hybrid-Reglement ist nicht wegen der Red-Bull-Dominanz eingeführt worden, es wirkt nur gerade so. Denn die Aerodynamik war bislang die Stärke des österreichisch-britischen Teams, nicht die PS-Kraft. Das hat sich komplett umgedreht, und auch das trägt nicht zur Laune Vettels bei. Denn der ist besessen vom Erfolg. Entsprechend groß muss, zumindest innerlich, der Zorn sein. Seine Einstellung, versichert er, habe sich in keinster Weise geändert, auch wenn es beim Fahrern jetzt allein wegen der Spritregulierung mehr auf Effizienz ankommt: „Ich werde da rausfahren, und dann aufs Ganze gehen.“ Die Flucht nach vorn – eine Verzweiflungstat, nachdem er bei den Testfahrten insgesamt gerade mal auf 162 Runden kam. Zum Vergleich: Mercedes-Pilot Nico Rosberg, der Vettel die Favoritenrolle abgenommen hat, absolvierte 554 Umläufe. Vieles deutet auf eine neue Hackordnung hin, neben den Silberpfeilen rechnen sich auch Ferrari und sogar Williams Chancen aus, die Red-Bull-Herrschaft zu beenden.
Es ist ein Jahr, in dem alles anders geworden ist für Sebastian Vettel. Erst sein Freund Michael Schumacher im Koma, dann die Geburt seines ersten Kindes, schließlich die technischen Rückschläge. 2014 wird ihn als Persönlichkeit definieren, keine Frage – nur in welche Richtung ist noch nicht klar. Jene Funksprüche, in denen er während der Siegesserie jedes Mal seine Mannschaft aufforderte, den Moment zu genießen, erscheinen nun in einem ganz anderen Licht. „Meine Einstellung ist immer gewesen, dass es keine Garantien gibt. Deshalb ist es nur für die Leute von außen vielleicht so ein Schock, was jetzt passiert ist.“ Für ihn selbst ist es mehr eine Geduldprobe.
Neue Saison birgt auch eine Chance für Vettel
Für ihn birgt die neue Saison durchaus auch eine Chance – zur weiteren Profilierung. Wenn Vettel beweist, dass er auch in einem nicht überlegenen Rennwagen erfolgreich sein kann, würde er sich als Großer unter den Größten in diesem Sport einordnen. Einstweilen muss er mit der vorauseilenden Schadenfreude leben, vom Abo-Champion zum Sorgenkind geworden zu sein. Die Vergangenheit allerdings zeigt: Vettel war immer dann am stärksten, wenn man ihn schon abgeschrieben hatte.