Oberhausen. Vor 40 Jahren wird der Oberhausener Leichtathlet Willi Wülbeck über 800 Meter in Helsinki Weltmeister. Sein Rekord von 1983 steht noch heute.
Der 28. April 1972 ist ein gewöhnlicher Frühlingstag in Athen. Die Sonne scheint, wie oft um diese Jahreszeit, den ganzen Tag über dem klassischen Panathinaiko-Stadion in Athen, wo 1896 die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit stattfanden. Diesmal tragen an diesem historischen Ort Athens Schüler ihre Leichtathletik-Meisterschaften aus. Wie seit Jahren. Ungewöhnlich ist lediglich, dass im 800-Meter-Lauf ein 17-jähriger deutscher Schüler vorweg läuft und am Ende als Sieger dekoriert wird.
Es ist die erste internationale Medaille, die Willi Wülbeck gewinnt – im Trikot von Rot-Weiß Oberhausen. Es ist der kaum bekannte Beginn einer Karriere, die er sich damals nicht hätte träumen lassen. Schon ein Jahr später jedoch lässt er mit dem zweiten Platz bei der Junioren-Europameisterschaft 1973 in Duisburg hinter dem späteren Olympiasieger und Weltrekordler Steve Ovett aus England sein Potenzial erkennen.
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Wenn Wülbeck (68) in diesen Tagen, da sich sein größter Triumph, der WM-Sieg vom 9. August 1983 in Helsinki, zum 40. Mal jährt, immer mal wieder seine Laufbahn Revue passieren lässt, wird deutlich, welche Schlüsselrolle die „Athener Episode“ in seinem Leben spielt.
Wir schreiben das Jahr 1971, als der 16-jährige Oberhausener Schüler nach dem Besuch der Friedrich-Ebert-Realschule seinen Eltern für ein Jahr nach Griechenland folgt. Dort arbeitet sein Vater nach Stationen in Ägypten und Libyen als Monteur für Mannesmann. An der Deutschen Schule in Athen kann er die Oberstufe nicht besuchen, weil er zuvor Latein nicht als Fach hatte. Deshalb wiederholt er die 10. Klasse und legt erneut die Realschulreife ab. Wichtiger aber für ihn: In Athen wird Angelos Depastas auf ihn aufmerksam, in den 1950er- und 1960er-Jahren ein Konkurrent des deutschen Mittelstrecklers Paul Schmidt, der später Wülbecks Bundestrainer wird.
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Unter den Fittichen von Depastas im Panioniou Club steigert der junge Pennäler dank eines speziellen Intervalltrainings seine Bestzeit über zwei Stadionrunden auf 1:51,2 Minute. „Ich glaube“, erinnert sich Wülbeck, „ich habe damals erstmals erkannt, dass ich über bestimmte Qualitäten verfüge.“
Die Ahnung trügt nicht. Nach seiner Rückkehr aus Griechenland wird Wülbeck, der drei Jahre später am Heinrich-Heine-Gymnasium in Oberhausen sein Abitur macht, 1972 prompt deutscher Jugendmeister. Trainiert wird er von Hans Raff, Olympiateilnehmer von 1936 im 3000-Meter-Hindernislauf, der nach dem Krieg viele Oberhausener Talente formt.
Zehn DM-Titel in Serie
1973 folgen der spektakuläre Auftritt in Duisburg und der erste von zehn aufeinanderfolgen deutschen Meistertiteln. Eine bis heute von keinem anderen deutschen Leichtathleten erreichte Leistung. Dennoch gilt Wülbeck 1983 als Unvollendeter. Obwohl er 1977 und 1983 im Europacup die deutschen Farben siegreich vertreten hat, fehlt ihm in seiner Vita der große internationale Erfolg. Im Rückblick macht er dies auch an Selbstzweifeln, gepaart mit Schlafstörungen, bei diversen Großveranstaltungen fest.
Obwohl schon mit 21 Jahren Olympia-Vierter 1976 in Montreal (Sieger: Alberto Juantorena aus Kuba), steckt Wülbeck, den der Olympia-Boykott 1980 um eine mögliche Medaille in Moskau gebracht hat, bereits in der Schublade „nationale Größe“ fest, als doch noch seine Stunde schlägt. Und dies zu einem Zeitpunkt, da ihn – ein Jahr nach dem Tiefpunkt mit dem achten und letzten Rang im EM-Finale 1982 von Athen – niemand mehr auf der Rechnung hat.
Fabelzeit von 1983 steht weiter
In fabelhaften 1:43,65 Minuten düpiert er im Olympiastadion der finnischen Hauptstadt Helsinki dank eines unwiderstehlichen Endspurts den Niederländer Rob Druppers und den Brasilianer Joaquim Cruz, der 1984 in Los Angeles Olympiasieger vor Sebastian Coe wird. Wülbecks Siegerzeit ist auch 40 Jahre danach noch von keinem deutschen Läufer unterboten worden ist. „Ein Gefühl wie ein Stromschlag“ habe ihn damals durchfahren, verrät der Weltmeister unmittelbar nach dem Rennen. Was dazu passt, dass nur wenige Leichtathletik-Ereignisse die Deutschen so elektrisiert haben wie Willis Lauf seines Lebens.
Helsinki macht Wülbeck, der damals – nach einem Intermezzo bei der SG Osterfeld – für den TV Wattenscheid startet, aber immer ein Oberhausener Junge geblieben ist, zu einer internationalen Sport-Größe. Zum Jubiläum ist er jetzt mit seiner Lebenspartnerin Lucia noch einmal an die Stätte seines größten Triumphes zurückgekehrt. Versteht sich von selbst, dass er sich dabei noch einmal auf „seiner“ Startbahn 2 im Olympiastadion von Helsinki ablichten lässt. Auch ein Foto vor dem Denkmal des „fliegenden Finnen“ Paavo Nurmi darf natürlich nicht fehlen.
Bürger des Ruhrgebiets
Sein später und kaum noch erhoffter internationaler Höhenflug hat den ebenso begnadeten wie bodenständigen Läufer nie abheben lassen. Typisch für den Rudolf-Harbig-Gedächtnispreisträger, dass er als seine vielleicht schönste Ehrung die Ernennung zum „Bürger des Ruhrgebiets“ 1985 empfindet.
Weil er sich nie ins Rampenlicht drängt, manchmal vielleicht auch selbst im Weg steht, manchen Vermarktern aber wohl auch als zu spröde gilt, vermag der erste deutsche Leichtathletik-Weltmeister seinen Ruhm nicht in vergleichbarem Maße zu versilbern. Andere, die sich für ein Titelfoto auf Hochglanzmagazinen auch als Helden ablichten lassen, tun sich leichter damit.
Nach seiner Karriere macht sich Wülbeck, der sein Sport- und Biologie-Studium mit dem 1. Staatsexamen fürs Lehramt abschließt, zunächst mit einer Sportagentur selbstständig, organisiert und vermarktet Veranstaltungen. Sein damit verdientes und gut verzinstes Geld legt er in den 1990er-Jahren in Mietshäusern an. Eine Altersvorsorge, die ihm heute zugute kommt.
Wülbeck bewegt die Menschen
Gleichwohl gab und gibt es immer mal wieder die Momente, in denen „Williiiii“, wie sie ihn jahrelang in den Sportarenen zehntausendfach angefeuert haben, mit einer gewissen Bitternis registriert, dass vergleichbare Athleten durch ihren Erfolg reich geworden sind, weil sie sich leichter taten mit den Gesetzen des Showbusiness.
Aber es sind meist nur kurze Augenblicke. Genießt er doch mit zunehmendem Alter, wie er zugibt, seinen Status als Weltmeister und Immer-noch-Rekordler mehr denn je. Aus seiner Freude darüber, dass er nicht nur mit Lauf- und Fitnesskursen in Oberhausen, Mülheim und Dinslaken viele Mitmenschen immer noch bewegt, macht er keinen Hehl. Oft ist der ehemalige Vorsitzende des ASV Duisburg auch mit dem Fahrrad am Niederrhein unterwegs oder entspannt sich in der Sauna. Dabei meditiert er dann nicht selten über manche Entwicklungen der heutigen Zeit, die einer wie er nie ganz verstehen wird.