Gelsenkirchen. Amine Harit zählte auf Schalke mit Bentaleb und Mendyl zur French-Connection – nur er bekommt eine neue Chance. Die versucht er zu nutzen.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht liegt Amine Harit am Spielfeldrand, die Betreuer signalisieren gleich, dass es für den jungen Mann mit der 25 auf dem Rücken nicht mehr weitergeht. Doch weil Schalke in diesem Moment auf niemanden verzichten kann, rappelt sich dieser Amine Harit noch einmal auf, humpelt wieder zurück auf den Platz und hilft mit letzter Kraft, dass Schalke noch ein 4:4 im Derby bei Borussia Dortmund holt.
Es ist der 25. November 2017. Wer an die guten Zeiten von Amine Harit denkt, der muss sich nur noch einmal diese Bilder in Erinnerung rufen. Dann sieht man vor seinen Augen einen Spieler, der will.
Was auch immer es war: Irgendetwas muss David Wagner die Überzeugung gegeben haben, dass dieser Amine Harit noch einmal eine Chance auf Schalke verdient hat. In der vergangenen Saison zählte der in Frankreich geborene Marokkaner zur nebulösen French-Connection auf Schalke: Nabil Bentaleb, Hamza Mendyl und eben Harit waren die Spieler, die als erste genannt wurden, wenn es in der Kabine drunter und drüber ging. Für Bentaleb und Mendyl gleichbedeutend mit dem Aus auf Schalke: Sie halten sich wieder in Frankreich auf und befinden sich auf Vereinssuche. Harit dagegen darf auf Schalke versuchen, die Uhr noch einmal zurückzudrehen. Zurück in die Zeit, in der er am Ende der Saison 2017/18 sogar zum „Bundesliga-Rookie 2018” gewählt wurde, zum Aufsteiger des Jahres.
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Beim Schalker Testspiel am Dienstagabend in Enschede (1:1) gibt ihm David Wagner erneut die Chance zur Bewährung, hinterher lobt der Trainer den 22-Jährigen verhalten: „Wir hatten in der ersten Halbzeit zwei, drei gute Aktionen von Amine.” Man merkt Harit an, dass er sich bemüht. Er läuft viel, bietet sich an, fordert die Bälle, geht ins Dribbling, wird oft gefoult. Auch seine Körpersprache wirkt positiv: Er lamentiert nicht, verzichtet auf Mätzchen und überflüssige Showeinlagen. Und noch etwas fällt auf: Seine ganz normale, einfache Frisur. So wie am Anfang auf Schalke.
Nach dem 4:4 in Dortmund, diesem eingangs erwähnten Spiel, hat sich Harit die Haare blond färben lassen, ganz hell blond. Das alleine muss nicht schlimm sein, aber in diesem Fall zeigte es auch äußerlich, dass sich irgendetwas verändert hatte. Harit genoss seinen persönlichen Aufstieg aus ärmlichen Verhältnissen, in denen er aufgewachsen ist; im Interview mit dieser Zeitung sprach er ganz offen auch darüber, was ihm Luxus und Aufstieg bedeuten. Er nahm mit Marokko an der Weltmeisterschaft 2018 in Russland teil und träumte davon, eines Tages selbst einer der besten Spieler der Welt zu sein.
Der Tag, der alles veränderte
Und dann kam der Tag, der alles veränderte: Bei einem Autounfall in Marrakesch fuhr er einen Passanten an, der Mann verlor sein Leben. Nur einmal hat er öffentlich darüber gesprochen, vor einigen Monaten im Interview mit der renommierten französischen Zeitung L´Equipe. Seine Erinnerung an diesen schrecklichen Abend: „Ich war nicht außergewöhnlich schnell, aber wohl zehn bis 15 km/h über der Geschwindigkeitsbegrenzung. Da war diese Person, die die Straße überquerte. Dann der Schock. Ich hielt 100 bis 150 Meter entfernt vom Unfallort an, weil ich es kaum realisieren konnte. Ich habe auf die Polizei gewartet, stand unter Schock, der schlimmste Moment meines Lebens.“
Einsicht, dass es so nicht weiter ging
Harit bekommt eine Strafe von vier Monaten auf Bewährung und muss eine Geldstrafe von 780 Euro zahlen. Er telefoniert mit der Familie des Opfers, danach fühlt er sich etwas besser, „weil sie mir gesagt haben, dass sie mir keine Vorwürfe machen. Dafür bin ich ihnen wirklich dankbar.“ Aber vergessen kann er dieses Unglück natürlich nicht, auch nicht verdrängen. Sogar auf dem Platz muss er daran denken: Er habe versucht, derselbe wie früher zu sein, sagt er, aber es ging nicht.
Die Erinnerung ist wie ein Rucksack, den er mit sich trägt. Alles fällt ihm schwerer, er sucht Ablenkung außerhalb des Platzes, geht ins Spielcasino, rutscht sportlich immer weiter ab. Schalke kennt die Probleme, berücksichtigt diese auch. Der neue Lizenzspieler-Koordinator Sascha Riether, in der vergangenen Saison selbst noch S04-Profi, sagt zu Harits Neuanfang nun: „Man darf nicht vergessen, was mit ihm im letzten Sommer mit dem Unfall passiert ist.“
Ob Amine Harit jemals wieder so unbeschwert wie früher Fußball spielen wird: Man weiß es nicht. Schalke hofft, dass der Rucksack irgendwann abfällt – ein angebliches Interesse des italienischen Erstligisten CFC Genua an dem 22-Jährigen wird momentan nicht weiter verfolgt. David Wagner hat entschieden, dass Harit seine Chance auf Schalke bekommen soll. Der Offensivspieler zählt zu den Akteuren, die „in der letzten Saison unter ihren Möglichkeiten geblieben“ sind (Riether), „die nicht ihre Leistung abrufen konnten wie in der Saison davor“.
Harit will diese Chance, die ihm Schalke noch einmal gewährt, nutzen. Der L’Equipe hat er in diesem Sommer gesagt: „Ich habe verstanden, dass ich mich ändern muss.“
Der Weg zurück ist schwierig – aber ein Anfang ist gemacht.