Bochum. Wir haben mit Organist Ludwig Kaiser über Sport gesprochen. Er kritisiert das Verhältnis zwischen den Disziplinen. Es gebe zu viel Fußball.
Herr Kaiser, wenn Sie das Wort Sport hören, woran denken Sie dann zuerst?
Ludwig Kaiser: Zunächst an meine tägliche Frühgymnastik. Dann denke ich an die Sommerzeit. Wenn es heiß ist, bin ich nach einem Konzert so durchgeschwitzt wie jeder Sportler. Drittens fällt mir dazu ein, wie ich mich fortbewege: mit dem Fahrrad.
Sie haben kein Auto?
Ich habe es vor drei Monaten verkauft. Es ist schön, mit dem Fahrrad von A nach B zu kommen. Noch schöner, und wichtiger, ist das Gefühl, dass man damit seinen Körper richtig geweckt hat. Dann ist man bereit, andere Dinge anzupacken.
„Man muss sich draußen bewegen, das Wetter spüren“
Sport stärkt auch die Psyche?
Absolut. Ich könnte ja von meinem Büro jeden Tag einfach nur durch einen Saal hinauf zur Orgel in der Kirche gehen. Dann wäre ich den ganzen Tag nicht an der frischen Luft, das ist für mich unvorstellbar. Man muss sich draußen bewegen, das Wetter spüren, zum Beispiel auf dem Rad. Die Psyche benötigt das.
Aber Bochum gilt nicht gerade als eine fahrradfreundliche Stadt...
Wenn man vom Auto ganz aufs Rad umsteigt, merkt man erst, was hier los ist. Das Verhalten der Autofahrer ist schon hanebüchen, ich war als Autofahrer nicht anders. Die gesamte Infrastruktur ist nicht auf das Rad zugeschnitten, es muss sich viel verbessern.
Inwiefern hilft Ihnen die Gymnastik?
Organisten bewegen zwar die Hände und Füße, trotzdem bewegt man sich sehr einseitig. Denken Sie nur an den Rücken. Die Gymnastik beugt Beschwerden wie etwa Verhärtungen vor. Und: Ich fühle mich einfach besser, wenn ich morgens ein paar Übungen gemacht habe.
Ist es sogar ein Muss für einen Spitzenmusiker, körperlich topfit zu sein?
Es gibt eine große Nähe zum Sport. Mozart sagte: Wenn ich einen Tag nichts tue, merke ich es selbst. Bei zwei Tagen merken es deine Freunde. Und bei drei Tagen merkt es auch das Publikum. Man muss dran bleiben. Es ist ein tägliches Training nötig, um Beweglichkeit, Mobilität, das Hineinfühlen, das Niveau beim Spielen und Hören zu halten.
„Das Gefühl, ein Hochleistungstier zu sein“
Ist ein oft mehrstündiges Konzert vergleichbar mit Leistungssport?
Ja. Man darf nicht vergessen, unter welcher extremen Hochspannung ein Solist steht. Wenn man bei einem Solokonzert zu viele „Fehlpässe“ spielt, spricht sich das schnell herum. Man hat als Solist manchmal das Gefühl, ein Hochleistungstier zu sein.
Wie gehen Sie mit dem Druck um?
Konzentration entsteht nur, wenn man vorher draußen war, also einem anderen Genre nachgeht. Bei Spitzensportlern sehe ich oft, dass sie Kopfhörer tragen, Musik hören. Ich gehe vorher gerne draußen spazieren, lasse das Geschehen fließen, auch gedanklich.
Sind oder waren Sie auch mal in einem Sportverein aktiv?
Als Kind war ich im Leichtathletikverein, ich war ganz gut im Sprint und im Weitsprung. Dann habe ich mit zehn Jahren die Orgel entdeckt, und es zählte nur noch die Musik. Im Studium dachte ich mal, ich müsste etwas für meine Fitness tun, da bin ich dann morgens um den Baldeneysee gerannt. Aber dass ich regelmäßig Sport treibe, fing erst mit etwa 40 Jahren wieder an.
Als Chorleiter sind Sie wie der Trainer eines großen Teams. Wie führen Sie Ihre „Mannschaft“?
Es gibt Chöre, die sich über ihre Institution definieren, der Einzelne geht etwas unter. Bei uns ist es anders. Ich dirigiere 40 Persönlichkeiten, die alle auf ihre eigene Art wahrgenommen werden wollen. Trotzdem muss ich diese 40 Charaktere zu einem Ganzen bündeln, das geht nicht mit einfachen Handbewegungen. Das ist eine Herausforderung.
Wie bewältigen Sie diese?
Ich ermuntere immer alle dazu, sich gegenseitig wahrzunehmen. Stellt sich ein Sopran mal zwischen einen Bass und einen Tenor, habe ich gleich eine andere Wahrnehmung. Das erzeugt Spannung, einen anderen Klang. Nehmen Sie das erste WM-Spiel von Deutschland gegen Mexiko, diese 0:1-Niederlage. Das Problem war doch, dass die deutschen Spieler nicht miteinander kommuniziert haben. In einem Chor ist es wie in einer Fußballmannschaft: Ich kann nur mit dem anderen zusammen gut sein.
Sind sie auch passiv ein Sportfan?
Ich gucke tatsächlich gerne Fußball. Ich bin dann in der Regel für David gegen Goliath. Und für Bochum natürlich. Der Sohn meiner Partnerin ist VfL-Mitglied, da bekomme ich einiges mit. In der letzten Saison war er erst frustriert, am Ende ging es ja zum Glück aufwärts.
„Es geht leider nur ums große Geld“
Der Fußball erdrückt in der öffentlichen und veröffentlichten Wahrnehmung alle anderen Sportarten.
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Es geht leider nur ums große Geld. Wenn man sich fragt, warum die Fifa die WM nach Katar oder in die USA vergeben hat, oder wieviel ein Bein eines Fußballers kostet, da wird einem schon schwindelig. Es gibt zu viel Fußball und zu wenig Vielfalt, ja. Letzteres ist aber nicht nur ein sportliches, sondern ein gesellschaftliches Phänomen.
Auch in der Kultur, in der Musikkultur gibt es die millionenschweren Stars und die großen Künstler, die nur vor kleinem Publikum auftreten.
Fast alle Gelder fließen heute in sehr prestigeträchtige Formate. Was zählt, sind Masse und Event. Das Luther-Oratorium – ein Prestige-Projekt des Luther-Jahres – wird in der Westfalenhalle aufgeführt und nicht in einem ‚kleineren‘ sakralen Raum. Die kulturelle Struktur unterhalb der großen Events in Stadien und Hallen wird zu wenig gefördert. Zum Glück habe ich in der Melanchthonkirche einen großen Freiraum, künstlerisch zu gestalten. Dabei stelle ich mir immer erst die Frage: Wie kriege ich eine gute Veranstaltung hin? Danach erst geht es in die ‚Vermarktung’. Oft ist es heute leider anders herum und das erste Kriterium lautet: Was zieht am meisten Leute an? Also Quantität statt Qualität! Das ist eine bedauerliche Entwicklung.
>>> Fünf Fragen an...: „Sport trifft Kultur“ - der Fragebogen der WAZ
1. Komplettieren Sie bitte diesen Satz: Schulsport war für mich...?
...lange Zeit sehr wichtig. Weil ich als Junge mit 10 bis 12 Jahren viel Leichtathletik im Verein gemacht habe, zweimal die Woche war ich dort aktiv. Das hörte aber ziemlich plötzlich auf, als ich an die Orgel kam.
2 . Welches Buch hat bei Ihnen den stärksten Eindruck hinterlassen?
Es gibt ein Buch von Hans Erich Nossack: „Spätestens im November“.
Zum Inhalt des Buches: Ein Schriftsteller bekommt einen Preis verliehen, die Frau des Kurators begegnet diesem Schriftsteller. Es ist eine sehr intensive Begegnung und verändert das Leben beider. In Nossaks Romanen fasziniert mich immer, dass die Menschen aufbrechen, sich woandershin wenden und tatsächlich damit auch Grenzen sprengen. Das könnte ich eins zu eins übernehmen, wenn es um Musik im 20. Jahrhundert geht.
3. Gibt es Gemeinsamkeiten im Berufsleben der Künstler und Sportler?
Ja. Auf einer ganz pragmatischen Ebene. (...) Wir haben gerade was Trainingseinheiten angeht, die Vorbereitung auf ein Ereignis, auf ein Konzert oder Spiel, die Anspannung davor, etliche Gemeinsamkeiten, an die man vielleicht gar nicht denkt, wenn man die beiden Genres nebeneinander hält.
4. Künstlern wie Sportlern wird ständig von aller Welt auf die Finger und Füße geschaut. Ist Ihnen das unangenehm oder lässt Sie das kalt?
Kalt lässt es mich nicht. Aber ich finde es wichtig, weil die Orgel meistens im Rücken zu den Menschen steht, die sich in der Kirche aufhalten. Dann heißt es manchmal so: Wir danken der Orgel. Aber da ist ja ein Mensch, der sie spielt. Diesen Menschen zu erleben, wie er mit Händen und Füßen auf verschiedenen Klaviaturen spielt, erzeugt oft erstaunte Reaktionen: ‘Jetzt habe ich mal gesehen, wie Sie das machen, Herr Kaiser.’
5. Bekommt der Sport im Vergleich zu viel öffentliche Aufmerksamkeit oder ist das Verhältnis ausgewogen?
Das Verhältnis ist auf verschiedene Weise unausgewogen. Da liegt einerseits grundsätzlich der Hype ein bisschen mehr auf dem Sport als auf der Kultur. Aber auch in den verschiedenen Sparten trifft das zu. Wir haben im künstlerischen Bereich eine Fokussierung auf bestimmte Events, die dann sehr gut ausgestattet sind, und die Ebene darunter wird nicht so gut bedient. Und das gleiche haben wir auch im Sport.
>> WAZ-Serie „Kultur trifft Sport und Sport trifft Kultur“
Das Interview gehört zu unserer neuen Serie „Kultur trifft Sport und Sport trifft Kultur“. Es geht dabei um einen Rollentausch von Kultur- und Sportredakteuren in Gesprächen mit Künstlern und Kulturschaffenden sowie Sportlern.