Essen. Handball-Legende Martin Schwalb über Traditionsklubs in der 2. Liga, die Aussichten eine Klasse darüber und die Lage der Nationalmannschaft.
Auch wenn seine Karriere als aktiver Handballer im Alter von 56 Jahren längst beendet ist, haben Fans Martin Schwalb noch immer als Spieler vor den Augen. Wie der 1,94-Meter-Koloss im rechten Rückraum Anlauf nahm, die blonden Haare wehten, er hochstieg und im Regelfall den Ball im Tor versenkte. 2272 Treffer in 428 Spielen sind noch immer der viertbeste Werte der Bundesliga-Historie. Vom Handball hat Martin Schwalb nie Abstand genommen. Allerdings beschäftigt er sich nicht nur noch mit Partien in der höchsten Spielklasse. Ein Interview über Traditionsklubs in der 2. Bundesliga, die Aussichten eine Klasse darüber und die Lage der Nationalmannschaft
Sie sind wieder sehr stark im Handball präsent. Was machen Sie genau momentan, Martin Schwalb?
Martin Schwalb: Als Experte bei Sky sehe und analysiere ich viele Spiele. Zudem bin ich Vize-Präsident und im sportlichen Bereich als Berater beim HSV-Hamburg tätig. Im Januar 2016 ist der Profibereich des HSV Handball in Insolvenz gegangen, der Verein bestand weiter, dem haben wir neues Leben eingehaucht. Dieser Job macht mir enorm Spaß. Sportlich geht es aufwärts: im Vorderfeld der 2. Liga. Zuletzt beim Heimspiel gegen Bad Schwartau hatten wir 4000 Zuschauer in der Alsterdorfer Halle.
Die 2. Liga ist ein Auffangbecken für mehrere Traditionsvereine. Macht dies die Attraktivität dieser Spielklasse aus?
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Sicherlich, große Namen sind darunter wie außer dem HSV noch Gummersbach, Lübbecke, Hüttenberg, Bad Schwartau und Tusem Essen. Es ist daher eine spektakuläre Liga, die floriert und auf großen Zuspruch der Zuschauer stößt.
Können diese Vereine auf Sicht gesehen wieder nach oben kommen?
Nicht alle, weil die Voraussetzungen bei einigen fehlen. Es ist wie im Fußball: Tradition allein ist noch kein Gütesiegel oder Qualitätsnachweis. Es muss eine finanzielle Basis vorhanden sein, um den Aufstieg zu schaffen. Die Voraussetzungen in Bezug auf Infrastruktur müssen stimmen, um oben angreifen zu können.
Essen, der Klub, für den Sie von 1988 bis 1990 gespielt haben, liegt an der Spitze. Kann die Mannschaft aufsteigen?
Ich traue ihr es durchaus zu. Tusem ist zweifellos die dominierende Mannschaft. Sehr robust, viele junge Talente, dennoch schon eine Truppe, die in den letzten Jahren gewachsen ist. Für mich steigen die Essener auf. Doch was dann kommt? Es ist ein Riesenschritt in die Erstklassigkeit. Normalerweise kämpfen Aufsteiger vom ersten Spieltag an gegen den Abstieg.
In der 1. Liga liegt ein Überraschungsklub an erster Stelle. Wie kommt es, dass die Recken aus Hannover vorn rangieren?
Ohne Frage, sie spielen eine überragende Saison, momentan läuft alles super. Auch das Remis beim Angstgegner Wetzlar ist okay. Dort hängen für alle, gerade auch für die Spitzenteams, die Trauben sehr hoch. Hannover stützt sich auf eine gute Abwehr, die jungen Kerle haben sich bewährt, zudem ist die Torhüter-Position mit Urban Lesjak und Domenico Ebner gut besetzt. Über die Qualitäten des Weltmeisters und Olympiasiegers Morten Olsen oder die Klasse eines Fabian Böhm müssen wir nicht reden.
Können sich die Recken an der Spitze halten? Oder werden sie durchgereicht?
Das ist die entscheidende Frage. Sie haben die Fähigkeiten, sich zu behaupten. Der Beweis muss nun am Sonntag beim Spitzenspiel in Kiel angetreten werden. Ich werde als Experte in der Halle sein und freue mich schon auf diese Partie. Möglicherweise wird Hannover sich nicht ganz oben halten können. Das bisherige Tabellenbild wird sich relativieren. Ein ganz einfacher Grund dafür: Wenn die herausragenden Spieler ausfallen oder angeschlagen sind, können diese nicht gleichwertig ersetzt werden, weil der Kader es nicht hergibt. Das war schon der Fall, als Olsen nicht fit gewesen ist, da gab es die erste Niederlage gegen Melsungen.
Ist die oberste Spielklasse stärker geworden in dieser Spielzeit?
Ich formuliere es so: in der Spitze breiter. Mit den Berliner Füchsen, mit Leipzig und Magdeburg, mit Melsungen, den Rhein-Necker Löwen sowieso, mit den Recken sind neben den Platzhirschen Flensburg und Kiel mehr Mannschaften, die das Ziel haben, auf Sicht Meister zu werden.
Die Favoriten aus dem Norden, aus Kiel und Flensburg, haben es neuerdings also schwerer?
Titelverteidiger Flensburg leidet unter dem Weggang von zwei Spielern. Tobias Karlsson war der Chef in der Abwehr, Rasmus Lauge Schmidt das Pendant in der Offensive. Diese beiden Klasseleute sollten wurden junge Letzte ersetzt werden, die ein Riesenpotenzial haben, jedoch noch Zeit brauchen und Erfahrung sammeln müssen. Zudem war und ist Holger Glandorf wegen einer Verletzung an der Schulter nicht im Vollbesitz seiner Kräfte. Und Simon Hald, der designierte Abwehrchef, zog sich einen Kreuzbandriss zu.
Und der THW Kiel?
Für mich der Favorit auf den Titel. Es ist bekannt, dass die Kieler seit vier Jahren nicht mehr Meister geworden sind. Diesmal wird es meiner Auffassung nach klappen. Der Trainerwechsel hat sich nicht nachteilig ausgewirkt. Filip Jicha macht einen ausgezeichneten Job wie Alfred Gislason in den letzten Jahren. Sie wollen Meister werden - und sie werden es werden. Kiel macht für mich den stabilsten Eindruck. Daran ändern auch die letzten beiden Niederlagen bei den Rhein-Neckar Löwen und gegen Porto in der Champions League nichts. In der Champions League haben sie bei dieser ersten Schlappe einfach gepennt.
Der Hit bei den Löwen sei, so wertete der Mannheimer Dirigent Andy Schmid, sei „das beste Handballspiel aller Zeiten“ gewesen. Stimmen Sie zu?
Mit solchen Superlativen sollte man vorsichtig sein, doch es war ein Topspiel – absolut hohes Niveau.
Ein anderer Superlativ lautet: Die deutsche Liga sei die stärkste auf der Welt.
Richtig, zumindest, was die Breite anbelangt. Selbst als Meister muss du überall aufpassen, dass es keine Niederlage setzt – gerade auswärts. Andere Ligen sind in der Spitze vielleicht etwas stärker. Ich nenne das Beispiel Barcelona in Spanien. Es kommt daher, dass sich diese Ausnahmemannschaften zumeist nur auf die Champions League konzentrieren können, national indes kaum Konkurrenz fürchten müssen.
Es häufen sich die Verletzungen. Es wird ständig diskutiert über den zu engen Terminkalender. Wie sehen Sie es?
Die Frage stellt sich seit langem. Der Klassehandballer hat in der Saison nur maximal vier bis sechs Wochen Urlaub, ansonsten einen Drei-Tages-Rhythmus. Es trifft vor allem auf die Nationalspieler aus Ländern zu, die sich für die EM oder die WM qualifizieren. Jedes Jahr ein großes Turnier, dazu Meisterschaft und Pokal, Champions League. Für die Spitzenkönner gibt es kaum Pausen. Doch es sind vielleicht 30 bis 40 Spieler aus der Bundesliga, bei den Akteuren aus kleinen Klubs ist es nicht so dramatisch.
Wo steht der deutsche Handball augenblicklich?
Er steht sehr gut da. Die Nationalmannschaft ist stark, längst wieder wettbewerbsfähig. Der Bundestrainer kann aus einem riesigen Fundus schöpfen, wir haben tolle Spieler, die im richtigen Alter sind. Die Mannschaft besitzt immer die Qualität und hat die Chance, das Halbfinale zu erreichen. Bei der WM im eigenen Land hat sie es bewiesen. Leider hatten wir im Semifinale keinen guten Tag, die Norweger waren besser und später auch die Franzosen. Doch: Wir sollten auch bei der kommenden EM in Norwegen. Schweden und Österreich eine Medaille holen.
Wie sehen Sie den Bundestrainer Christian Prokop?
Er sitzt sicher im Sattel. Der Verband hat ihn nach der Enttäuschung bei der EM vor zwei Jahren gestützt, nun wirkt alles recht solide und durchdacht. Es gibt keine Ansatzpunkte für Kritik.
Was ist den Sorgenkindern im Kader?
Julius Kühn ist mit Sicherheit dabei, Patrick Wiencek ist nach seiner Stauchung des Knies fit.
Bleibt der Rückraum Mitte die Problemposition?
Es sieht so aus. Martin Strobel fällt aus, der Ersatz Simon Ernst nach dem dritten Kreuzbandriss ganz gewiss auch. Prokop muss wieder mal improvisieren mit Fabian Wiede, Paul Drux und Kai Häfner.
Schaffen es Silvio Heinevetter und Patrick Groetzki noch ins EM-Aufgebot?
Es wird schwer für Heinevetter, was mir leid tut. Doch der Kieler Dario Quenstedt befindet sich in einer sehr guten Form. Groetzki hat mehr Möglichkeiten, doch der junge Timo Kastening aus Hannover bedrängt ihn. Es ist Sache des Bundestrainers, wie er entscheidet.
Bei der WM im eigenen Land zu Jahresbeginn lautete ein geflügeltes Wort: Was der Fußball vom Handball lernen kann! Umgekehrt gefragt: Was kann der Handball vom Fußball abschauen?
Ich sehe einige Dinge. Der Profifußball hat sich enorm entwickelt, ist längst kein Prollsport und auch kein Männersport mehr. Er hat sich geöffnet für alle Gesellschaftsschichten. Ich bin ein Fan des Fußballs und bewundere diese Tendenz. Früher standen nur Männer zwischen 25 und 80 in der Kurve, mit dem Bier in der einen, der Bratwurst in der anderen Hand. Damals war die Infrastruktur nicht so berauschend. Manni Kaltz hat mal über das Volksparkstadion gesagt: der kälteste Ort in Europa. Selbst zu HSV-Glanzzeiten kamen da gerade 25.000 Zuschauer bei normalen Spielen. Nun interessieren sich Frauen für den Fußball, der Stadionbesuch ist häufig zu einer Familienangelegenheit geworden. Es wird gespielt in tollen, hochmodernen Arenen. Und der Handball? Wir sind eine sehr lebendige Community, bieten einen dynamischen und attraktiven Sport, doch wir tun uns schwer, neue Anhänger zu generieren und in die Halle zu locken.
Teilen Sie die Meinung von Axel Kromer, dem Sportvorstand des Verbands, der dem Fußball ein Disziplinproblem attestiert hat?
Wir als Handballer sollten uns um unsere Belange kümmern. Außerdem mag ich solche Vergleiche nicht.