Rio de Janeiro. Brasiliens gedemütigte Nationalmannschaft verabschiedet sich beim Spiel um Platz drei gegen Holland in einem vergifteten Klima vom eigenen Publikum aus der WM. Mit einem feierlichen Abschied, wie er das DFB-Team 2006 in Stuttgart zuteil wurde, ist eher nicht zu rechnen.

Die Abrechnungen sind längst im Gange, und vor allem Trainer Luiz Felipe Scolari bekommt nun die andere Seite der beinahe schizophrenen brasilianischen Seele zu spüren.

Warmherzig, liebevoll und voller Pathos, so hatte die Welt die Gastgebernation bei dieser WM kennengelernt. Seit dem desillusionierenden 1:7 im Halbfinale gegen die deutsche Nationalmannschaft aber zeigen sich die brachialen Züge, die Brasilien in seiner 514 Jahre währenden Geschichte immer wieder aufs Neue lernen musste. Einen Krieg hat das riesige Land nie erlebt, aber die innere Gewalt hat es geprägt, bis heute.

Nun wird Scolari gerade regelrecht hingerichtet. Dass dies mit Worten geschieht, macht es für den 65-Jährigen kaum besser. Er ist schuld, so einfach ist das für viele Landsleute, und er soll dafür büßen. „Fora Scolari!“ Hau ab, Scolari, hieß es in sozialen Netzwerken und Medien, oder auch: „Fahr zur Hölle!“ Vor dem Halbfinale flötete die Nation noch säuselnd „Felipão“, großer Felipe. In Brasilien liegen die Extreme sehr nah beieinander, im Fußball wie im Alltag.

Neymar beruhigt vergiftetes Klima

Vielleicht war es vor dem letzten, schweren Gang des Trainers und seiner Nationalmannschaft bei dieser WM ganz gut, dass Neymar die Aufmerksamkeit wieder ein bisschen auf sich zog. Vor dem Spiel um Platz drei an diesem Samstag gegen die Niederlande gab der 22-Jährige erstmals nach seinem Lendenwirbelbruch im Viertelfinale wieder eine Pressekonferenz, im WM-Quartier in Terésopolis. Gestützt hat Neymar den Trainer dabei zwar nicht, das wäre nach den vernichtenden Worten seines einflussreichen Beraters auch unmöglich gewesen. Aber zumindest könnte er das vergiftete Klima etwas beruhigt haben.

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„Wir haben jetzt alles beweint, was es zu beweinen gab. Und jetzt versuchen wir, am Samstag zu spielen und die Partie zu gewinnen“, sagte Neymar. „Als sei es ein Endspiel“, so solle man die Partie angehen „und diese WM lächelnd beenden“. Und weiter: „Natürlich schmerzt es, es wird für sehr lange Zeit schmerzen, aber es wird auch vorübergehen.“

Neymar wird selbstverständlich nicht auf dem Platz dabei sein, aber er wird der Partie in Brasília als Zuschauer beiwohnen und dabei Scolaris letztes Spiel als Trainer der Seleção erleben. Offiziell ist das zwar noch nicht, aber die Nation denkt längst über seinen Nachfolger nach, der den Wiederaufbau bewerkstelligen könnte.

Feierlicher Abschied ist nicht zu erwarten

Zunächst aber müssen alle Beteiligten diesen Tag im Nationalstadion überstehen. Mit einem feierlichen Abschied wie 2006, als die deutsche Nationalelf vom Publikum in Stuttgart aus ihrer Heim-WM getragen wurde, ist nun nicht zu rechnen. Aber ein bisschen Hoffnung besteht, dass sich bis zum Spiel beim brasilianischen Publikum die Erkenntnis durchsetzt: Diese Seleção hat nicht versagt, sondern durchaus viel erreicht. Und auch unter einem anderen Trainer wäre sie mit der Mission sechster WM-Titel schlicht überfordert gewesen. „Wir haben nur einen durchschnittlichen Fußball geboten und es deshalb auch nur bis ins Halbfinale geschafft. Das war nicht der Fußball einer brasilianischen Seleção“, befand Neymar.

Vielleicht erinnerte er nebenbei auch daran, dass es Schlimmeres gibt, als den Titel klar zu verpassen. „Zwei Zentimeter weiter nach innen, und ich säße jetzt im Rollstuhl“, sagte er über Juan Zúñigas Kniesprung in seinen Rücken. Auf eine öffentliche Abrechnung mit dem Kolumbianer hat Neymar bei aller Kritik an dem brutalen Foul übrigens verzichtet. Vielleicht war auch das ganz hilfreich für diesen Samstag in Brasília. Neymar sagte: „Ich fühle keine Wut, keinen Hass.“