Essen. Vor 30 Jahren wurde Deutschland Weltmeister. Guido Buchwald erinnert sich im Interview an Duelle mit Maradona und die Euphorie nach dem Sieg.

Am 8. Juli 1990 wurde Deutschland zum dritten Mal Fußball-Weltmeister. Guido Buchwald stand damals gegen Argentinien in der Startelf. Der heute 59-Jährige erlebte, wie Andreas Brehme den Elfmeter zum 1:0 (0:0)-Endstand verwandelte. Nun, 30 Jahre später, ist es Zeit zurückzublicken. Im Interview spricht Buchwald über die große Initialzündung im Turnier, Zweikämpfe mit Diego Maradona und die Euphorie in Deutschland.

Menschen haben von großen Ereignissen oft ein Bild im Kopf, das sich in ihre Erinnerung eingebrannt hat. 1990 war das für viele Fußballfans der Moment, als Franz Beckenbauer nach dem Endspiel alleine und scheinbar selbstvergessen über den Rasen lief. Haben Sie das damals gesehen?

Guido Buchwald: Das habe ich damals gar nicht mitbekommen. Wir haben natürlich gefeiert – und ich musste ja auch noch zur Dopingprobe. Ich habe das dann erst in den nächsten Tagen in den Medien wahrgenommen, wie er sinnierend über den Rasen gelaufen ist.

Hätte die Mannschaft ihn früher zum Feiern „einfangen“ müssen?

Buchwald: Ach, der hat ja hinterher auch noch mitgefeiert. Ich glaube, das war für ihn damals ein großer Schritt. Er war einst der beste deutsche Fußballer, wurde als Spieler Weltmeister. Nach dem Titelgewinn als Trainer hat er vermutlich viele Gedanken im Kopf gehabt, die er erst mal verarbeiten musste. Deshalb ist er erst einmal so nachdenklich über den Platz geschlendert.

Guido Buchwald spielt aktuell noch für die Traditionsmannschaft des DFB.
Guido Buchwald spielt aktuell noch für die Traditionsmannschaft des DFB. © Unbekannt | Unbekannt

Sie sind später auch Trainer gewesen. Vermutlich kann man diese Situation dadurch viel besser nachvollziehen.

Buchwald: Spieler und Trainer sind total verschiedene Jobs – und Franz Beckenbauer hat es in beiden Rollen geschafft. Das ist wirklich etwas Einmaliges.

Sie sind zwar als Trainer nicht Weltmeister, aber immerhin auch mal Meister in Japan geworden. Können Sie sagen, wie sich ein Titelgewinn in den beiden Rollen unterscheidet?

Buchwald: Der Trainer ist der Kopf des Ganzen, derjenige, der die Mannschaft erst  zusammenstellt  und beim Spiel die Taktik vorgibt. Als Spieler ist man ja doch eher in der Masse drin, ist einer von vielen.

Der Trainer leidet mehr, oder?

Buchwald: Ja. Als Spieler kann man es selber beeinflussen, kann immer  versuchen, das Spiel aktiv zu verbessern.  Der Trainer kann nur versuchen, von außen Anweisungen zu geben und hoffen, dass diese von den Spielern umgesetzt werden.

Haben Sie selber von der Weltmeisterschaft auch ein ganz besonderes Bild im Kopf?

Buchwald: Ganz klar der Moment, in dem Lothar Matthäus den Pokal überreicht bekommen hat. Da war klar, jetzt haben wir es geschafft. Den Pokal zu sehen und selber in der Hand halten zu können, war ein großer Moment.

Ist Ihnen da bewusst geworden, dass Ihnen niemand den Titel nehmen kann?

 Buchwald: Genau. Da habe ich realisiert, dass ich das höchste Ziel eines Fußballers wirklich erreicht habe. Bei allen Spielen vorher im Turnier freut man sich, ist aber weiter angespannt, weil es immer noch weitergeht und sich alles noch ins Negative umkehren kann. Nach dem Finale ist dann alles herausgebrochen, weil man weiß, es gibt Morgen, kein nächstes Spiel mehr. Da feiert man nur noch.

Sind Sie nach der WM, nachdem der Druck weg war, später in ein Loch gefallen oder hat Sie die Euphorie über alles hinweggetragen?

Buchwald: Ich glaube, wir haben das alle erst Tage danach wirklich richtig begriffen. Außerdem kam nach unserer Rückkehr nach Deutschland ein Empfang nach dem anderen. Erst im Dorf, dann in der Stadt, später von der Landesregierung und im Verein. Da war ja vierzehn Tage lang immer irgendeine schöne Ehrung, irgendeine eine Feier. Da schwimmt man einfach so mit, weil es schlicht von einem Termin zum anderen geht. Zur Ruhe gekommen bin ich dann erst viel später, im Urlaub.

Wer Zeitzeugen zu Ihrem Fußballspiel befragt, hört oft die Beschreibung “zuverlässig“. Können Sie damit leben?

Buchwald: Ich kann nur sagen, dass ich immer zielgerichtet war, und immer ein Teamspieler. Vielleicht meinen die Menschen das, wenn sie mich als zuverlässig bezeichnen. Es wird aber auch immer Menschen geben, die sagen, dass bei so einem Spieler die Kreativität fehlt.

Die Menschen, die Sie als zuverlässig beschreiben, liegen aber offenbar nicht so verkehrt: Selbstbild  und Außenwahrnehmung scheinen übereinzustimmen?

Buchwald: Das Problem ist, dass man bei einer solchen Charakterisierung lange unterschätzt wird. Viele Ihrer Kollegen haben auch nicht gesehen, was ich für das Team geleistet habe. Viele Journalisten – aber auch Zuschauer – sehen nur denjenigen, der das Tor schießt, der irgendwas Geniales nach vorne macht. Dass die Basis, um erfolgreich zu sein, die Zuverlässigkeit, die Defensive ist, wird oft übersehen: Da muss man immer mehr leisten, um Anerkennung zu bekommen. Ein Stürmer kann während eines Spieles mal 60, 70 Minuten gar nichts machen, sogar drei Chancen vergeben, aber dann schießt er ein Tor und ist der König.

Zuverlässigkeit steht aber vielleicht auch für eine Charakterstärke, für einen, der sich nicht wegdreht, wenn es schwierig wird.

Buchwald: Ich bin als Fußballer immer Arbeiter gewesen, kein Künstler. Spieler wie Messi oder einst Maradona, die konnten immer etwas Besonderes. Aber solche Ausnahmesportler gibt es vielleicht alle zehn Jahre mal. Ich habe mir Vieles erarbeiten müssen. Insofern sehe ich mich eher als Kämpfernatur.

Vier Jahre zuvor durften Sie nicht zur WM mitfahren. Hat Sie das zusätzlich angestachelt?  

Buchwald: Nein, aber das war natürlich ein Rückschlag, wenn man kurzfristig nicht nominiert wird, obwohl man immer im Kader gewesen ist. Franz Beckenbauer hat es mir aber auch erklärt. Er hat 1986 auf den Bayern-Block gesetzt. Das hieß also nicht, dass ich schlechter war, aber er wollte mit den eingespielten Bayern-Spielern zur Weltmeisterschaft. Das muss man akzeptieren, wenn der Trainer das so entscheidet. Als Spieler musst du deine Sache weiter so gut machen, dass der Trainer dann doch sieht, dass du vielleicht doch besser bist als die anderen.

Gibt es eigentlich Geschichten von 1990, die Sie nicht mehr hören können? Solche, die Sie nicht mehr erzählen mögen? Oder war alles so gut, dass Sie immer wieder drüber sprechen mögen?

Buchwald: Ich bin eigentlich nicht so der große Erzähler. Das sind ja aber alles positive Dinge. Von denen spricht man dann auch gerne. Es ist ja auch schön, wenn Leute ganz gespannt zuhören, wenn es darum geht, wie es damals war.

Dazu gehört auch die  Geschichte, wie Sie zu dem Spitznamen Diego gekommen sind?

Buchwald: Jetzt wieder. Am Anfang war mir das gar nicht so recht, dass man mich Diego genannt hat. Ich bin Fußballarbeiter. Diego war ein Künstler. Inzwischen sehe ich das als witzige Auszeichnung. Es ist auch gelegentlich so, dass Menschen, denen ich begegne, manchmal mein Name nicht einfällt und mich dann  „Diego“ nennen.

Wie sieht es mit dem Holland-Spiel aus? Ist das aus Ihrer Sicht in Ordnung, dass die Spuck-Attacke gegen Rudi Völler immer wieder Thema ist?

Buchwald: Diese Begegnung war ja auch für uns Spieler ein einmaliges Ereignis mit all seinen Ungerechtigkeiten. Man darf dabei nicht vergessen, dass Holland als amtierender Europameister der ganz große Favorit war. Wir haben dann in der Halbzeit gesagt, dass es nicht sein kann, dass die Holländer nach so viel Ungerechtigkeit auch das Spiel gewinnen. Das ganze Spiel war eine absolute Ausnahmesituation, vielleicht vergleichbar mit 2014, als die Deutschen bei der WM Brasilien 7:1 geschlagen haben. Dieses Spiel wird vermutlich auch nie jemand vergessen. Das gilt auch für das Holland-Spiel. So eine spielerische Leistung mit zehn Mann bei glühender Hitze wird es wohl nie wieder geben. Deshalb erzähle ich gerne davon.

Sie stellen dabei aber die sportliche Leistung in den Mittelpunkt?

Buchwald: Ja, so sehe ich das. Frank Rijkaard hatte einen Blackout gehabt, für den er sich entschuldigt hat. Das ist längst abgehakt und erledigt. Aber die Art und Weise, wie wir nach den Platzverweisen als Team reagiert haben, war so positiv. Der Teamspirit, den wir in dieser schwierigen Situation gezeigt haben, wird mir immer in Erinnerung bleiben.

War dieser Teamgeist, war dieses Spiel die Initialzündung für den Titelgewinn im Finale gegen Argentinien?

Buchwald: Nein, er war vielleicht der Punkt auf dem i. Die Initialzündung bei der WM war gleich das erste Spiel, das 4:1 gegen Jugoslawien. Die ersten Spiele bei Weltmeisterschaften sind meist von Abwarten, von Vorsicht geprägt. Die Spiele gehen oft 0:0 oder 1:1 aus, weil keiner verlieren möchte. Wir haben aber von vornherein Offensivgeist gezeigt.

Sie hatten zuvor erzählt, dass Sie nach dem Titelgewinn vierzehn Tage herumgereicht worden sind, und eben haben wir über die Weltmeister von 2014 gesprochen, die nach ihrer Rückkehr aus Brasilien von Millionen Menschen in Berlin empfangen worden sind. Ist das Drumherum noch gigantischer  geworden?

Buchwald: Naja, als wir vom Flughafen nach Frankfurt  in die Stadt gefahren sind, sind wir auch nicht durchgekommen, weil die Zuschauer an der Strecke standen. Das war so viel Gedränge, dass der Konvoi auseinandergerissen wurde und sich das Programm um über zwei Stunden verzögert hat. Auch damals war die Begeisterung gigantisch.