St-Petersburg. Der Stachel von 2016: Nicht der WM-Titel 1998, sondern das verlorene EM-Finale vor zwei Jahren ist die Triebfeder der Franzosen.
St. Petersburg ist eine prächtige Stadt mit fast imperialem Glanz. Nichts demonstriert das Geltungsstreben mehr als ihr Stadion-Ungetüm, das sich ans Wasser der Ostsee geschmiegt hat wie einst russische Zaren in ihre Pelze. Das Raumschiff-artige Stadion auf der Krestowski-Insel dient als Synonym für Geldverschwendung, aber gibt eben auch das Aushängeschild für das frühere Leningrad. Und neuerdings taugt es auch Wegweiser für die französische Fußball-Nationalmannschaft.
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Frankreich setzt auf die Defensive
„Für uns ist das ein bezauberndes Stadion. Ein Ort, auf dem wir unser Nation ein Lächeln auf die Lippen zaubern können.“ Als der Kapitän Hugo Lloris diese Sätze sagte, stand das Halbfinale gegen Belgien noch bevor, aber der 31 Jahre alte Torwart, der am 1:0-Kraftakt gegen die Roten Teufel am Dienstagabend erheblichen Anteil hatte, speiste seine Zuversicht aus einem Erlebnis ein Vierteljahr vorher. Ziemlich locker hatten die Franzosen in einem Testspiel den WM-Gastgeber Russland bezwungen, zweimal traf Kylian Mbappé, einmal Paul Pogba. Der tiefsinnige Torwart spürte, dass „eine Menge großartiger Spieler“ vielleicht wirklich zu einer titelverdächtigen Gemeinschaft zusammenwachsen würden. Unter dieser Voraussetzung: „Wenn wir mit unserer unglaublichen Offensive keine Tore schießen, müssen wir uns auf unsere solide Defensive verlassen.“
Reicht Frankreichs Coolness auch für das Finale?
Jener Entwicklungsprozess ist die wichtigste Errungenschaft der Équipe Tricolore mit dem in der Heimat gefeierten Finaleinzug. Dem prächtigen Spektakel im Achtelfinale gegen Argentinien (4:3), ein Höhepunkt der WM 2018, folgten im Viertelfinale gegen Uruguay (2:0) und nun im Halbfinale eher pragmatische Darbietungen. Coolness und Kalkül hat aber zuletzt jeder Weltmeister gebraucht. Italien bediente sich 2006 fast durchgängig einem Effizienzstil, Spanien gewann 2010 Halbfinale und
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auch nur mit 1:0. Und Deutschland landete 2014 in den vier K.o.-Spielen drei solcher Siege, was im Zuge des 7:1-Rausches gegen Brasilien ein bisschen unterging. Muster deutscher Zweckmäßigkeit war der Viertelfinalsieg gegen die noch nicht ausgereiften Franzosen, entschieden durch einen Kopfball von Mats Hummels.
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Nun heißt der französische Hummels Samuel Umtiti, der als Siegtorschütze zugleich das hohe Niveau von Ausbildungsvereinen wie Olympique Lyon verkörpert, die im französischen Fußball immer noch die Basis legen. Damit das reiche Talent der Bleus sich endlich wieder entfaltet braucht es einen, der mal enge Leitplanken vorgibt, dann aber wieder auch mal kurz alle Barrikaden abbaut. Und da kommt Lehrmeister Didier Deschamps ins Spiel. Der Nationaltrainer schnitt bei seinen Ausführungen fast Grimassen wie einst Nationalkomiker Louis de Funès.
Trainer Deschamps würdigt Mentalität
„Unsere Frauen und Familien sind jetzt hier. 48 Stunden können sich meine Spieler erholen. Sie sollen es genießen.“ Ha, ha, ha. Den Müßiggang im Stammquartier in Nowaja Riga, eine halbe Stunde Fahrtzeit in nordwestlicher Richtung von Moskau, hätte sich die Mannschaft im finalen Vorlauf verdient. „Die Mentalität ist die richtige. Ich bin stolz auf diese Spieler.“ Nur eines rief der 49-Jährige doch noch allen zu: „Das wichtigste Spiel ist am Sonntag.“
Frankreichs Trauma: Heim-EM 2016
Angetrieben werden Trainer und Spieler dabei vom tief sitzenden Stachel aus dem verlorenen EM-Finale 2016. Damals hatten die Franzosen die scheinbar schwerste Hürde im Halbfinale – den Weltmeister Deutschland – aus dem Weg geräumt und fühlten sich gegen Portugal in ihrem Stade de France wohl selbst als Favorit. Ehe in der Verlängerung der Albtraum passierte. „Diesmal wollen wir auf der richtigen Seite und nicht wie 2016 auf der falschen Seite stehen“, erklärte Deschamps jetzt. Auch sein die defensiven Pflichten über alles stellender Anführer Paul Pogba merkte an: „2016 darf sich nicht wiederholen.“
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Kaum eine Rolle spielen für die Protagonisten hingegen die Verknüpfungen zur WM 1998. Gewiss, der in Ehren ergraute Monsieur Deschamps kann derjenige werden, der als Dritter nach Mario Zagallo und Franz Beckenbauer als Spieler und Trainer den Goldpokal empfängt. Doch seine Gruppe lässt er mit den verklärenden Heldengeschichten in Ruhe. „Davon habe ich nie, nie, nie erzählt. Sie kennen die Bilder, aber manche waren damals noch nicht einmal geboren. Ich kann nicht über das reden, was vor 20 Jahren passierte. Ich kann nicht mal über das sprechen, was vor zehn Jahren war. Wir schreiben eine neue Geschichte.“ Und in der kommt auf jeden Fall schon mal die Zarenstadt St. Petersburg vor.