Moskau. Vor Brasiliens Hinrundenfinale gegen Serbien ist am Zuckerhut die Sorge groß: allerdings nicht vor einem möglichen Ausscheiden.
Ohne allzu große Übertreibung darf man sicherlich behaupten, dass Toni Kroos‘ spätes Tor gegen Schweden, das Deutschland in einen kollektiven Freudentaumel versetzte, im Rest der Welt nicht ganz so viele Glückshormone freigesetzt hat. Besonders in Brasilien gab es unterschiedliche Reaktionen auf das Golaço, das Traumtor. Anerkennung, Respekt und Ehrfurcht auf der einen Seite. Sorge, Angst und sogar Panik auf der anderen Seite.
"Die Gefahr lebt"
„Die Gefahr lebt“, stand in der seriösen „Folha de São Paulo“ geschrieben – und das Online-Portal „Carta Capital“ präzisierte: „Deutschland ist wiedergeboren, aus der Asche auferstanden und tauscht jetzt gewaltsam auf dem Weg Brasiliens auf.“
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Das Erstaunliche an dieser Deutung ist nur, dass es noch gar nicht ausgemacht ist, dass Deutschland tatsächlich auf Brasiliens weiteren Weg auftaucht. Denn zunächst einmal muss die DFB-Elf nach dem glücklichen Sieg gegen Schweden nun auch das letzte Vorrundenspiel gegen Südkorea überstehen, um sich möglichst mit einem Sieg für das Achtelfinale zu qualifizieren. Einerseits.
Und andererseits muss vor allem auch das brasilianische Team die Runde der letzten 16 Teams erreichen. Gewinnt Brasilien an diesem Mittwoch gegen Serbien (20 Uhr, ZDF), ist die Seleção Erster und trifft im Achtelfinale möglicherweise wirklich auf Deutschland. Verlieren Neymar und Co aber, wäre für den fünfmaligen Weltmeister sogar das Undenkbare denkbar: der erste Vorrunden-K.o. seit 1966.
Tite denkt nicht an taktische Spielchen
„Wir wissen ganz genau, welche Verantwortung auf unseren Schultern lastet“, sagt Trainer Tite. Der Coach lächelt in den überfüllten Presseraum im Keller des Stadions von Spartak. Tite ist locker, macht Witze und gibt sogar die Startelf („Wir werden genauso wie zuletzt beginnen“) ungefragt preis.
Auch bei der Frage, ob der Ausgang des Vorrundenfinals von Deutschland gegen Südkorea auf das Spiel der Brasilianer einen Einfluss hätte, lässt sich Tite nicht aus der Ruhe bringen. „Nein“, antwortet der Coach mit einem breiten Grinsen. Und als der Fifa-Mitarbeiter nach einer sieben Sekunden langen Pause den nächsten Fragensteller an die Reihe nehmen will, unterbricht Tite ihn dann doch mit einer ausführlicheren Antwort: „Wir dürfen nicht darüber nachdenken. Und wir werden auch nicht darüber nachdenken.“ Serbien habe so viel Qualität, dass man es sich gar nicht erlauben könnte, irgendwelche taktischen Spielchen vorzunehmen.
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Der Trainer hat gesprochen. Doch hat er auch die Wahrheit gesprochen? Igor Siqueira von der Zeitung „O Globo“ glaubt jedenfalls nicht daran, dass ein mögliches Aufeinandertreffen gegen Deutschland überhaupt keine Rolle spielen würde.
„Seit der Auslosung und der theoretischen Möglichkeit, dass Brasilien und Deutschland schon im Achtelfinale gegeneinander spielen müssen, spricht das ganze Land darüber“, sagt der Journalist. „Ich persönlich glaube, dass es für Brasilien sogar besser wäre, wenn die Seleção eher früher als später auf Deutschland trifft. Die Mannschaft scheint noch nicht diese gefürchtete Maschine zu sein, zu der sie immer im Laufe eines Turniers wird. Aber im Rest des Landes würde man wohl lieber ganz auf ein Spiel gegen Deutschland verzichten.“
Die Angst vor Alemanha
Die Angst vor Alemanha ist allgegenwertig in Brasilien. Der Fernsehsender Sport TV bereitet gerade mit einer großen Dokumentation den vierten Jahrestag des „Sete a um“ am 8. Juli auf. Zeitzeugen werden gesucht, die bei der Mutter aller Niederlagen im Stadion von Belo Horizonte waren. „Das Spiel hat sich tief in die Seele Brasiliens gebrannt“, sagt Siqueira. Der 1:0-Sieg im Freundschaftsspiel gegen Deutschland Ende März in Berlin habe zwar gut getan. Doch mehr als ein kleines Pflaster auf einer tiefen Fleischwunde war der Testsieg nicht.
Die Tränen, deren sich Brasiliens Nationalspieler schon vor dem historischen 1:7 bei der Hymne nicht schämten, sind auch vier Jahre später wieder ein Thema. Vor allem deswegen, weil auch Superstar Neymar, der damals verletzt fehlte, nach dem Last-Minute-Sieg gegen Costa Rica Rotz und Wasser heulte. „Jungs, hier spricht Vater Neymar“, sagte der Senior nach der Partie in einer Botschaft an die Nation. „Leute, haltet Euch in den Sozialen Netzwerken mit Geschimpfe gegenüber wem auch immer zurück.“
"Auch ich habe geweint"
Auch Tite sieht sich am Vortag zum Vorrundenfinale gegen Serbien noch einmal in der Pflicht, nach der x-ten Nachfrage etwas ausführlicher auf Neymars Tränen und die grundsätzliche Frage, ob man auf dem Fußballfeld weinen darf, einzugehen. „Es gibt eine Zeit auf dem Feld, um einen kühlen Kopf zu bewahren“, sagt der Trainer. „Und es gibt eine Zeit für große Emotionen.“ Dann schaut Tite an den Journalisten im stickigen Kellerraum vorbei direkt in die dahinter aufgebauten Kameras: „Liebe Nation, ich muss etwas gestehen“, sagt der Trainer. „Auch ich habe geweint. Ich habe geweint, als ich das erste Mal Brasilien in der WM-Qualifikation vor zwei Jahren gegen Ecuador trainieren durfte. Ja, ich habe geweint. Und nochmal: Ich, Tite, habe geweint.“
An diesem Mittwoch soll aber nicht in erster Linie geweint sondern gejubelt werden. Und wenn Brasilien dann tatsächlich gegen Deutschland im Achtelfinale spielen muss? „Vamos ver“, sagt Igor Siqueira. Dann wird man sehen.