Moskau. Sechs Spieler führen die deutsche Nationalmannschaft bei der WM an. Vier waren schon vor neun Jahren gemeinsam erfolgreich.
Sami Khedira ist ein politischer Mensch. Einer, der jeden seiner Schritte abwägt, ihn auf Sinnhaftigkeit und möglicher Folgeerscheinungen untersucht. Der 31-Jährige tut in seinem Berufsleben nie etwas Unbedachtes. Dass Khedira im WM-Trainingslager in Südtirol der Allererste vom Tross der deutschen Nationalelf war, braucht daher niemand als Zufall bezeichnen. Er wollte der Erste sein. Er wollte sich so präsentieren, wie ihn Bundestrainer Joachim Löw sieht: als derjenige, der beim Weltmeister vorne weg geht.
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Vor jedem Turnier untersucht die deutsche Öffentlichkeit den Nationalmannschaftskader auf geeignete Teamleiter-Persönlichkeiten. Gute Führung ist schließlich wichtig, will man erfolgreich sein. Das weiß jeder aus seinem Büroalltag. Und so ist es auch im Fußball. „Wer ist hier der Boss?“, fragt sich Joachim Löw aktuell aber nicht. Für den 58-Jährigen ist die Sache klar. Die Hierarchie in seinem Team ist über Jahre gewachsen. Waren es früher oft einzelne Spieler, die als unangefochtene Chefs und Platzhirsche in deutschen Mannschaften auftraten wie Michael Ballack oder Lothar Matthäus, besetzt die Führungsetage der DFB-Auswahl heute ein Sextett aus Nationalspielern. Vier davon waren bereits vor neun Jahren gemeinsam erfolgreich – und alle pflegen einen anderen Regierungsstil als Ballack und Matthäus. Ein Überblick über die Häuptlinge in Löws Elf:
Sami Khedira – der Mächtige: „Er ist ein Leadertyp, Vorbild an Führung, Vorbild an Kommunikation, Siegermentalität und Professionalität.“ Das sagt Löw über Khedira. Der defensive Mittelfeldspieler von Juventus Turin hätte gut und gern auch Kapitän werden können, nachdem Bastian Schweinsteiger im Juli 2016 aus der Nationalelf zurücktrat. Löw entschied sich für Manuel Neuer, weil dieser anders als Khedira sportlich unumstritten war. Obwohl Khedira nicht gesetzt ist für die Stammelf, nimmt er eine zentrale Position in der Teamhierarchie ein. Der Ursprung der aktuellen deutschen Mannschaft liegt im Jahr 2009. Damals wurden Neuer, Jerome Boateng, Mats Hummels und Mesut Özil U21-Europameister in Schweden. Schon diese Elf führte Khedira als Kapitän aufs Feld. „Er ist ein geborener Anführer“, sagte der damalige U21-Nationaltrainer Horst Hrubesch. Dazu braucht es Sozialkompetenz, Gespür für die Nöte des Augenblicks und die Fähigkeit, wie ein Trainer zu denken. Khedira hatte all das schon früh. Heute, bei seinem fünften Turnier mit der A-Nationalelf, gehört er zu den einflussreichsten Spielern im Team und ist neben Thomas Müller der Stellvertreter von Neuer als Kapitän.
Mats Hummels – der Wortführer: Auch Hummels gehörte 2009 zur U21-Europameister-Elf. Aber anders als Khedira, Neuer, Özil und Boateng spielte er noch nicht die WM 2010. Seine Zeit kam erst 2012 bei der EM. Zunächst noch etwas mit Vorsicht beäugt, sah Löw irgendwann im sehr selbstbewussten Verteidiger einen Mann, der das Wort im Team ergreifen kann und dieses in die richtige Richtung führt. 2014 wurde Hummels zur Stütze der Mannschaft. Nach dem Triumph von Rio und den Rücktritten der Meinungsführer Philipp Lahm, Per Mertesacker und Miroslav Klose wuchs er in die erste Reihe hinein.
Seine Bedeutung auch neben dem Platz ließ sich beim WM-Qualifikationsspiel gegen Tschechien in Prag im September 2017 beobachten: Deutsche Hooligans hatten sich und die Nation mit Nazi-Parolen blamiert. Hummels war es, der entschied, dass die Mannschaft nach Abpfiff nicht wie üblich zum deutschen Fanblock ging. Hummels war es auch, der danach klare Worte fand, als andere im Verband sich erst einmal wegduckten: „Die Gesänge waren eine Katastrophe. Deshalb muss man schauen, dass man die aus dem Stadion rauskriegt“, sagte er. Fußballer sind selten gute Redner. Hummels ist einer. Auch das braucht eine Mannschaft – einen Kommunikator nach innen und außen.
Manuel Neuer – Kapitän und Autorität: Der Bayern-Keeper ist weder ein so guter Redner wie Hummels, noch strebt er so sehr nach der Macht wie Khedira. Aber seine herausgehobene Stellung als weltbester Schlussmann prädestiniert ihn zum Anführer und Kapitän dieser Mannschaft. Neuer hat eine Siegeraura wie wenige. Und er besitzt die Gabe, den Blick für das große Ganze und jedes einzelne Puzzleteil im Team zu haben. Auch in München ist der 32-Jährige Kapitän. Seine Qualität verleiht ihm die Autorität, seine Sozialkompetenz, auch junge Spieler und Hinterbänkler einzubeziehen, die breite Akzeptanz. Viele Trainer zögern, Torhüter zu ihren Spielführern zu ernennen. Löw tat es nicht. Dass der Bundestrainer bis zuletzt wartete, um Neuer trotz seiner Ausfallzeit seit September doch für die WM zu nominieren, zeigt seinen Stellenwert.
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Thomas Müller – Humorist und Mentalitätsmonster: Der Angreifer kann einem Team mit seinem Humor Leichtigkeit verleihen. Müllers Witze sind legendär. So spielte er vor der WM 2014 für seine Nationalelf-Kollegen Kellner und trug dabei ein rosa Dirndl, weil er eine Wette verloren hatte. Aber hinter dieser Spaßvogelfassade steckt ein Spieler voller Ehrgeiz. Müller ist ein Mentalitätsmonster. Kaum einer geht auf dem Feld weitere Wege, keiner verkörpert den Siegeswillen mehr als der 28-Jährige. Darüber hinaus war Müller der Garant für ein erfolgreiches Abschneiden deutscher Teams bei den vergangenen Weltmeisterschaften: 2010 und 2014 traf er jeweils fünf Mal. „Er ist eine absolut positive Erscheinung mit der nötigen Lockerheit und Professionalität. So jemanden braucht jedes Team“, sagte Löw über Müller.
Toni Kroos – der Strippenzieher: Der zentrale Mittelfeldspieler von Real Madrid ist mittlerweile einer der mächtigsten Spieler in der Nationalelf. Zu den Bossen im deutschen Team gehört der 28-Jährige, weil er mit seinen Pässen und Tempoveränderungen das Spielgeschehen auf dem Feld bestimmt. „Er ist ein absoluter Schlüsselspieler für uns, ein Leistungsträger, der die Mannschaft auf seiner Position führt“, sagte Löw. Kroos zieht die Strippen im Spiel, aber auch abseits des Rasens ist sein Einfluss seit der WM 2014 und seinem anschließenden Wechsel zu Real Madrid enorm gestiegen. „Er ist im Ausland gereift“, sagte Löw. Dass Kroos ein Wortführer innerhalb des Teams ist, sah man auch nach dem verlorenen Test gegen Brasilien im März: „Heute hätten einige die Chance gehabt, sich zu zeigen. Sie haben es nicht getan“, sagte Kroos. Eine klare Ansage, wer hier der Boss ist – und es bleiben will.
Jerome Boateng – der Mahner: Der Vierte im Bunde der U21-Europameister von 2009 ist Boateng. An seiner Entwicklung seither sieht man, dass auch ein schüchterner Junge zum Anführer reifen kann. Früher ein Mitläufer ist aus dem Verteidiger ein Leistungsträger und Mahner geworden. Kein anderer Spieler geht so kritisch mit der Teamleistung nach Spielen um wie Boateng. Als nach dem 1:1 im Testspiel gegen Spanien im März alle von der Schönheit der Partie schwärmten, kritisierte der Münchner seine Kollegen: „Da kriegen wir drei, vier Konter. Das geht nicht. Man sieht, dass wir noch viel Arbeit haben.“ So oder ähnlich tritt Boateng oft bei der Nationalelf auf.
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Wie in Unternehmen hat sich auch der Führungsstil in Fußballmannschaften verändert. Hierarchien sind flacher geworden und bieten die Möglichkeit, dass neue Anführer heranwachsen können. Bei Löws Elf stehen die Bosse der Zukunft schon bereit. Rechtsverteidiger Joshua Kimmich ist ein Anwärter für das Kapitänsamt in ein paar Jahren. Zudem wartet mit Julian Draxler ein weiterer, potenzieller Teamleiter. Der Mittelfeldspieler zeigte beim Confed-Cup 2017, dass er Chef sein kann. Als Kapitän führte er Deutschland zum Titel. Bei der WM 2018, so ist es geplant, übernehmen diesen Job erst mal noch sechs andere.