Essen. Argentinien, Brasilien, Spanien und Frankreich zählen zum Favoritenkreis bei der WM. England hat eher Außenseiterchancen.
Dinge, die immer gleich bleiben, können Menschen ein beträchtliches Maß an Halt und Kraft geben. Vor allem, wenn die Sache sogar noch eine positive ist, etwas Gutes, Schönes. Wie zum Beispiel diese erstaunliche Serie, die die deutschen Fußballer seit dem Sommer 2016 hinlegten. 22 Spiele in Folge blieben sie ohne Niederlage.
Doch als die Serie im vergangenen März ihr Ende fand und sich die scheinbar Unbesiegbaren den Brasilianern geschlagen geben mussten, da machte sich auch so etwas wie Erleichterung breit. Mindestens aber ein Gefühl der Bestätigung. Seht ihr, haben wir doch gesagt. Herr Kroos, Sie vielleicht? „Es ist nicht so, dass wir der absolute Favorit sind, der nach Russland fährt“, sagte der Mittelfeldstratege von Real Madrid. Spätestens nach der 1:2-Pleite beim Test gegen Österreich am 2. Juni, der ersten Niederlage gegen den Nachbarn seit 32 Jahren, mehren sich die Stimmen im Land, die die WM-Chancen der deutschen Mannschaft mit einer gewissen Lust klein reden.
Es handelt sich um ein hübsches Ritual vor so ziemlich jeder Meisterschaft, dass niemand – wenn es nicht offensichtlich ist – zum absoluten Topfavoriten ernannt werden möchte, weil das die Erwartungen erhöht, aus der die große Enttäuschung erwächst, wenn es nichts geworden sein sollte. So ist das auch vor der WM in Russland. „Wir wollen diesen Titel wieder nach Deutschland holen“, sagt Bundestrainer Joachim Löw.
Natürlich sagt er das. Seine Mannschaft ist der amtierende Weltmeister, sie hat seit der EM viele Spiele und in personell ausgedünnter Besetzung sogar den Confed-Cup, die WM-Generalprobe, gewonnen.
„Deutschland verschlingt die Rivalen wie ein Menschenfresser“
Der Nachwuchs aus der U21 holte sich den Titel bei der EM, sodass die internationale Konkurrenz schon wieder die Weisheit bemüht, dass es vollkommen gleichgültig sei, wer wo einen Fußball in die Luft wirft, um ein Spielchen zu starten – am Ende gewinne ja doch wieder Schwarz-Rot-Gold. „Deutschland verschlingt die Rivalen wie ein Menschenfresser“, schrieben die Sport- und Kannibalismusexperten der italienischen Zeitung Corriere dello Sport.
Löw aber zieht in Fragen der Ernährung zum Beispiel Espresso, gute Weine, leckeres Essen vor. Doch auch ein Genussmensch wie er duldet keine Nachlässigkeiten, die entstehen, wenn man selbst zu glauben beginnt, unschlagbar zu sein. Seit Wochen und Monaten mahnt er die Professionalität seiner Spieler an, appelliert an sie, sich in eine Form zu bringen, dass jeder in jeder Sekunde des Turnier seine beste Leistung abzurufen imstande wäre. „Wir haben eine gute Basis. Mehr nicht! Es gibt keine Garantien“, sagt der Bundestrainer und verweist auf die Lust der Konkurrenz darauf, „uns vom Thron zu stürzen“. Wer für diesen Akt der Meuterei infrage kommt? „Argentinien mit unglaublicher Offensivkraft. Spanien nach wie vor. Brasilien ist wiedererstarkt“, sagte Löw auf die Frage nach den Titelanwärtern. „Und ich würde auch die Engländer nicht vergessen.“ Dazu komme Frankreich. Und – das sagt Löw nicht – Belgien. Das ist er: Der allgemein anerkannte Kreis der Favoriten.
Offensivstarke Argentinier
Ja, die Argentinier. Die haben es Löw angetan. Falls jemand wagen sollte, in seiner Gegenwart von den deutschen Möglichkeiten in der Offensive zu schwärmen, dann beginnt Löw das mögliche Personal Argentiniens aufzuzählen: Angel di Maria, Paulo Dybala, Sergio Agüero, Gonzalo Higuain – und vorneweg natürlich Lionel Messi. In diesem Sommer wird er 31 Jahre alt. Es könnte seine letzte WM sein. Ein Titel blieb ihm auf der größten Bühne bislang verwehrt. Schuld daran: hauptsächlich die Deutschen. Bei den letzten drei Weltmeisterschaften scheiterte Argentinien stets an Löw und Co. (2006 und 2010 im Viertelfinale, 2014 im Finale).
Wo steht Spanien?
„Eine gute Weltmeisterschaft ist ein Platz unter den ersten Vier, alles andere ist eine schlechte WM“, sagt Verbands-Präsident Claudio Tapia und erhöhte den Druck auf das Team, das sich erst in letzter Sekunde qualifizierte und im März eine historische 1:6-Niederlage gegen Spanien hinnehmen musste.
Immerhin darf man sagen: Gegen Spanien zu verlieren, ist keine Schande, denn es spielt wieder wie das Spanien aus einer zu Ende gegangenen Ära. 2008 Europameister, 2010 Weltmeister, 2012 Europameister – und dann der Absturz in Brasilien, als in der Vorrunde Schluss war und sich zeigte, dass der Fußball-Dominator den Umbruch verpasst hatte.
och dem neuen Trainer Julen Lopetegui gelang es, eine Mannschaft zusammenzustellen, in der Legenden wie Andres Iniesta und Adrian Ramos weiterhin ihren Platz haben, an deren Seite aber auch junge, erfolgshungrige Spieler für eine frische Brise sorgen. Umbruch mit Auge: die Wurzeln wahren, aber nicht krampfhaft an Altem festhalten. Ergebnis: Spanien tikitakert wieder wie Spanien. Das Testspiel im März gegen Deutschland (1:1) geriet zu einem Plädoyer für schönen Fußball, der ja eigentlich in Brasilien daheim ist. „Jogo bonito“ sagt man dort dazu. Doch dass Brasilien wieder ernst zu nehmen ist und sich auch selbst wieder ernst nehmen kann, liegt weniger an Ästhetik, denn an neuer Sachlichkeit.
Brasiliens neues Selbstbewusstsein
Nationaltrainer Tite übernahm die Mannschaft im Juni 2016 nach dem blamablen Vorrunden-Aus bei der Copa America von Carlos Dunga. Da stand der Rekord-Weltmeister in der Qualifikationsrunde für Russland mit nur zwei Siegen aus sechs Spielen auf Rang sechs und drohte das Ticket zum Turnier erstmals zu verpassen. Und das alles, nachdem die Heim-WM 2014 mit dem desaströsen 1:7 gegen die Deutschen geendet hatte. Das fußballerische Selbstbewusstsein näherte sich null an.
„Bei meinem Amtsantritt war der Druck ein komplett anderer: Brasilien irgendwie zur WM zu bringen“, erinnert sich Tite an die Anfänge. Gelassen kann er zurückblicken, weil seine Mannschaft danach in der Qualifikation kein Spiel mehr verlor und als erstes Team die Zugangsberechtigung für Russland herbeispielte.
Tite gelang es dabei, die offensive Lust seiner Spieler mit einer verlässlichen defensiven Organisation auszustatten. Zu sehen war dies bei besagtem 1:0-Sieg gegen die Deutschen in Berlin im März, das der Selecao ebenfalls einen Teil des Stolzes zurückbrachte, weil es das Trauma von 2014 tilgte.
Nicht zu sehen war dabei der Superstar Neymar, weil der Offensivkünstler wegen eines Fußbruchs unpässlich war. Bis zur WM wird er wieder fit sein, aber es gehört zu Tites Leistungen, dass sich seine Mannschaft emanzipiert hat von den Individualleistungen Neymars, der in Paris bei Saint-Germain spielt und dort einen recht guten Blick auf das hat, was dort gedeiht: womöglich eine neue Weltmeister-Generation.
Frankreich mit Stars und Talenten
Die Equipe Tricolore gewann den WM-Titel zuletzt 1998 mit einer Mannschaft, die Legendenstatus erlangte: Zinedine Zidane, Thierry Henry, David Trezeguet, Patrick Vieira, Emmanuel Petit, Marcel Desailly, Didier Deschamps. Letzterer ist seit 2012 Nationaltrainer Frankreichs und kann aus einem schier endlos scheinenden Reservoir an Talenten und Stars verfügen. Das ist Fluch und Segen zugleich. Mit Kylian Mbappé – 19 Jahre alt und für 180 Millionen Euro Ablöse von Monaco zu Paris Saint-Germain transferiert – sowie Ousmane Dembélé – 21 Jahre alt und vor einem Jahr für weit über 100 Millionen Euro von Borussia Dortmund zum FC Barcelona gewechselt – verfügt er über die beeindruckendste offensive Zukunftsvision. Aber bürgt das auch für die Gegenwart?
Deschamps sieht „mangelnde Erfahrung meiner jungen Spieler. Sie sind teilweise teuer verkauft worden, aber sie sind noch keine Führungsspieler“. Über eine stabile Einheit verfügt er trotz internationaler Klasse durch Innenverteidiger-Koloss Raphael Varane (Real Madrid), Mittelfeldkönner Paul Pogba (Manchester United) und dem stürmischen Feingeist Antoine Griezmann (Atletico Madrid) nicht. Immer wieder gerät die Defensive ins Wanken und präsentiert sich die Mannschaft eher als Ansammlung von Einzelkönnern, denn als harmonisches Ensemble. Deschamps sagt: „Wie sind keine Favoriten, aber wir haben Ambitionen.“
Realismus in England
Noch demütiger begibt sich das in Turnierfragen leidgeplagte England Richtung WM. „Wir müssen realistisch sein. Um die WM zu gewinnen, bräuchte es ein Wunder“, sagt Nationalspieler Kyle Walker. Und auch die wie immer nicht gerade zimperliche englische Presse befindet sich nicht gerade im Jubelrausch. Die englischen Fans, schreibt das Boulevardblatt The Sun, sollten vor ihrer Abreise nach Russland lieber „nicht zu viele Unterhosen“ einpacken.
Dabei gibt das Jahr 2017 größten Anlass zu Optimismus für die Zukunft. Die U17 und die U20 wurden Weltmeister, die U19 gewann die EM, die U21 scheiterte dort erst im Elfmeterschießen an – natürlich – Deutschland. Ob die neue Goldene Generation irgendwann wieder eine WM gewinnen kann? 1966 schaffte England das zuletzt. Die Sehnsucht ist groß. Genau wie in Belgien, einer weiteren Mannschaft, der man den großen, überraschenden Coup zutrauen könnte, die aber noch öfter scheiterte als England. Merke: Nicht alle Dinge, die immer gleich bleiben, geben Halt und Kraft