Herne. Vor genau 50 Jahren machte der Herner Harry Bohrmann sein einziges Bundesligaspiel. Im Tor des VfL Bochum ließ er Gerd Müller verzweifeln.
Als der große Gerd Müller am 15. August verstarb, ging das auch Harry Bohrmann nahe. „Das war ein trauriger Tag“, sagt der Herner, „er war ja auch schon so lange sehr krank.“ Natürlich kamen all die Erinnerungen wieder hoch, natürlich dachte Harry Bohrmann zurück an das außergewöhnliche Ereignis, das ihn mit dem erfolgreichsten Torjäger der deutschen Fußball-Geschichte verbindet. An die legendäre Begegnung der beiden – an diesem Samstag vor exakt 50 Jahren.
Bundesliga-Saison 1971/72, der achte Spieltag. Der VfL Bochum ist als Aufsteiger frisch in der Liga, die Bayern kommen mit all ihren Giganten. Mit Gerd Müller, Franz Beckenbauer, Sepp Maier, Paul Breitner, Uli Hoeneß, Georg Schwarzenbeck. Aber sie zaubern nicht. Sie führen nur 1:0 durch Hoeneß, als VfL-Torwart Jürgen Bradler nach 40 Minuten verletzt aufgeben muss.
"Sepp Maier war eines meiner Vorbilder"
In diesem Augenblick wird Harry Bohrmann „schon ein bisschen nervös“. 19 ist er, wie Stammtorwart Bradler kam er aus der Nachbarschaft vom Verbandsligisten Turnerbund Eickel zum VfL. „Ich war völlig unvorbereitet“, erzählt er. „Und dann stehst du auf dem Platz auf einmal Leuten gegenüber, von denen du früher im Jugendzimmer Poster an der Wand hattest. Sepp Maier war eines meiner Vorbilder.“
Harry Bohrmann gibt alles. Fängt Flanken ab, reagiert gut, wirft sich vor allem immer wieder erfolgreich Gerd Müller entgegen. Nur in der 67. Minute streckt sich der große Blonde vergeblich, gegen den Schuss des Dänen Johnny Hansen ist er machtlos.
Ein Elfmeter wie ein Zuspiel
Ein weiteres Mal lässt sich Harry Bohrmann nicht bezwingen, auch nicht, als Gerd Müller in der 78. Minute zum Elfmeter anläuft. Was der sich dabei denkt, als er flach und flau genau auf die Mitte des Tores schießt? Harry Bohrmann hat sich auf einen Sprung vorbereitet, doch er muss nur den Fuß hinhalten. Deshalb verzichtet er darauf, seine vermeintliche Glanztat mit dem Zuckerguss der Schwärmerei zu überziehen: „Es war, als hätte er mir den Ball zugespielt.“
Egal. Elfmeter abgewehrt. Vom Bomber der Nation!
Gerd Müller, der in jener Saison auf sagenhafte 40 Treffer kam, muss sich für seine Lässigkeit geschämt haben, Ausreden hatte er sonst nicht nötig. Er sei beim Anlauf von Reinhold Wosab festgehalten worden, behauptete er – die Fernsehbilder belegten das nicht. Und er habe einen Pfiff gehört. „Ich nicht“, sagt Harry Bohrmann heute und lächelt.
Was er noch nicht wissen konnte: Dies war das Spiel seines Lebens. Es blieb nämlich sein einziges Bundesligaspiel. „50 Jahre her, ich kann es kaum glauben“, sagt er kopfschüttelnd. „Aber ich erinnere mich noch genau. Vor dem Spiel kam Bundestrainer Helmut Schön in unsere Kabine und hat jedem die Hand geschüttelt – da war ich schon unfassbar stolz. Und nach dem Abpfiff bin ich mit Sepp Maier Arm in Arm vom Platz gegangen. Ein Riesenmoment für mich. Das Foto hängt heute noch zu Hause an der Wand.“ Ein Bild von dem Elfmeter ist leider nicht mehr aufzutreiben.
Kein Manager, keine Angebote, kein Durchbruch
Harry Bohrmann hoffte damals, den Durchbruch schaffen zu können. Aber für die nächste Saison holten die Bochumer Werner Scholz aus Aachen als neue Nummer eins – „und da war ich dann nur noch der dritte Torwart“. Er blieb, auch weil er die 1600 Mark Grundgehalt pro Monat als viel Geld empfand. Aber noch lieber wollte er spielen, vielleicht auch eine Klasse tiefer. „Es kamen aber keine Angebote“, erzählt er. „Es gab ja kein Netzwerk und keine Manager.“
Sportfotografie als neue Leidenschaft
Also ab nach Hause. 1974 ging er zu seinem Stammverein in Herne zurück, zum RSV Holthausen. Nur noch Bezirksliga, aber mit Nestwärme. In Holthausen ist er aufgewachsen, er betont: „Aus unserem Stadtteil kamen drei Nationalspieler: „Helmut Benthaus, Hans Cieslarczyk – und Günter Sawitzki.“ Der zählte als Torwart 1958 und 1962 zum WM-Aufgebot – ein Kindheitsidol. „Wenn er seine Eltern besuchte, standen wir Jungs vor der Tür und holten uns Autogramme.“
Aber Harry Bohrmann wurde kein neuer Günter Sawitzki, er musste sich neu orientieren. Er arbeitete im Außendienst eines großen Kaffee-Unternehmens und entdeckte eine neue große Leidenschaft: die Sportfotografie. Mit 29 beendete er seine Fußball-Laufbahn, als Ein-Mann-Agentur belieferte er die Zeitungshäuser samstags von den Bundesligaplätzen, und sonntags fotografierte er die Amateurfußballer in seiner Heimatstadt Herne für die Lokalredaktion.
Als Ruheständler hält sich der 69-Jährige mit Tennis fit. Regelmäßig trifft er sich dafür mit Jürgen Bradler, dem Torwartkollegen von damals. Der betrieb einige Jahre eine Imbissbude in Oer-Erkenschwick, Harry Bohrmann hatte ihn dort mal besucht. Die Currywurst muss wirklich gut gewesen sein, denn: „Wir sind Freunde geworden.“
Sie reden natürlich auch über den Fußball von heute. Zum Beispiel darüber, dass Robert Lewandowski in der vergangenen Saison mit 41 Treffern Gerd Müllers mutmaßlichen Rekord für die Ewigkeit um ein Tor übertraf. Das wäre nicht passiert, wenn sich Gerd Müller 1971/72 nicht den Luxus erlaubt hätte, drei Elfmeter zu verschießen. Für einen gemeinsamen Rekord hätte schon der eine in Bochum gereicht...