Bochum. Schiedsrichter Wilfried Hilker zeigte vor 50 Jahren die erste Rote Karte. Zu Besuch bei einem, der deutsche Fußball-Geschichte schrieb.

Eine ruhige Straße in einem Bochumer Stadtteil, ein gepflegter Vorgarten, eine gewöhnliche Klingel. Ein älterer Mann öffnet und lächelt. Die Körperhaltung ist sportlich, fast dynamisch. Verwunderlich, denn der Mann ist 90 Jahre alt. „Kommen Sie rein. Ich habe meine zwei Spritzen schon bekommen“, sagt er, lächelt weiter und geht ins Innere. „Wollen wir draußen sitzen? Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Wasser, Wein?“ Zu Besuch bei einem, der deutsche Fußball-Geschichte schrieb.

Wilfried Hilker zeigte vor 50 Jahren die erste Rote Karte der Bundesliga. Bei der WM 1970 in Mexiko hatte sich der damals noch wortwörtlich rote Karton bewährt, kurz danach war er bundesliga-tauglich. Am 3. April 1971 ließ sich der Frankfurter Friedel Lutz zu einem Revanchefoul an seinen Braunschweiger Gegenspieler hinreißen. Oder wie er es ausdrückte: „Ich habe ihm lustvoll in den Hintern getreten.“ Hilker blieb gar nichts anderes übrig, als ihm Rot zu zeigen. „Es ging nicht anders“, sagt er heute.

Wilfried Hilker zeigt Rot – in seinem Garten in Bochum.
Wilfried Hilker zeigt Rot – in seinem Garten in Bochum. © LOth

Damit wäre die Geschichte erzählt. Denn die der Roten Karte im Leben von Wilfried Hilker endet hier. Er zeigte nie wieder einem Spieler einer Senioren-Mannschaft Rot. „Von da an war Ruhe“, sagt er. Nur bei den Jugendlichen musste er durchgreifen, wenn er in seiner Region ein Spiel pfiff und die Jungen über die Stränge schlugen. „Das ging nicht anders.“

Bochumer Schiedsrichter: Mit 90 um die Welt

Aber Wilfried Hilker legt an diesem Punkt erst los. Es geht ihm in diesem Gespräch um mehr als die Rote Karte: um Fußball, um Ereignisse, um Moral. Als Geschäftsmann flog der Ingenieur sogar noch im vergangenen Jahr um den Globus. „Ich habe die ganze Welt gesehen.“ Als Schiedsrichter erlebte er die Welt des Platzes, er will deshalb ein Buch veröffentlichen. 60 Seiten habe er geschrieben, an diesem Nachmittag muss ein Aktenordner mit einer Trillerpfeife reichen. Jahre fliegen vorbei in diesem Garten. Ein Brunnen plätschert vor der Terrasse.

Auch interessant

Da war 1961 Wilfried Hilkers Durchbruch als Schiedsrichter, als er ein Spiel der westfälischen Amateurmannschaft gegen die japanische Länderauswahl pfiff. Das erste einer japanischen Mannschaft auf europäischem Boden, erzählt er und zeigt ein altes Schwarz-Weiß-Foto. „Die Zuschauer waren mit der Leistung des Schiedsrichters sehr zufrieden“, steht darunter.

Wilfried Hilker stand mit 30 Jahren als jüngster Schiedsrichter auf der DFB-Liste, leitete gleich das Derby Köln gegen Gladbach und erinnert sich, ohne zu zögern, an das 1:1 sowie die von seiner Souveränität überraschte Presse. Er schmiss im Dezember 1970 Nationalspieler Gerd Müller vom Platz, noch ehe es eine Rote Karte gab. Ein Politikum. Müller wurde für acht Spiele gesperrt. „Ein Jahr habe ich kein Bayern-Spiel gepfiffen.“

Sieg-Heil-Rufe vor dem Stadion in Griechenland

Auch international war Wilfried Hilker im Einsatz: Von der griechischen Liga angefordert, befand er sich dabei sogar auf gefährlicher Mission. Er pfiff ein Spiel von Doxa Dramas, das 0:0 besiegelte den Abstieg des Klubs. „Danach standen sie vor dem Stadion Spalier und riefen ,Sieg Heil‘. Das war sehr unangenehm“, sagt er. Dann war da das Bundesligaspiel zwischen Wattenscheid und Nürnberg, das der junge Dr. Markus Merk 1991 pfiff. Nürnberg führte kurz vor Schluss mit 1:0, als Fans den Platz stürmten: „6000 mit den Nürnbergern befreundete Schalker versammelten sich hinterm Tor. Merk unterbrach die Partie, wollte sie aber zu Ende bringen.“ Hilker redete mit Merk, der sich später noch für dieses Gespräch bedankte. „Er war einer der besten Schiedsrichter, die ich je gesehen habe.“ Die Partie wurde zu Ende geführt, mit dem Sieg entging der Club damals der Abstiegsrelegation.

Auch interessant

Die Geschichte fließt weiter, das Spiel ändert sich. „Mit Sicherheit war es früher nicht leichter, Schiedsrichter zu sein. Heute ist das Spiel härter und schneller. Dafür gibt es Vierte Offizielle, Linienrichter mit besonderen Befugnissen, einen Kölner Keller“, sagt Wilfried Hilker. Für ihn ist der Videobeweis nicht der Weisheit letzter Schluss. Wieder ein Blick in die Geschichte: Wenn er damals in Berlin pfiff und mit seinen Linienrichtern in einem teuren Hotel übernachtete, habe das Verpflegungsgeld des DFB nicht fürs Frühstück gereicht. „Ich habe für meine Kameraden bezahlt. Wir waren eine Gemeinschaft. Entscheidend ist, dass du gute Leute hast.“

Wilfried Hilker war offensichtlich ein Guter. „Du musst Autorität haben. Wenn du die nicht hast, ist es schwer“, sagt er. Bei ihm reichte eine einzige Rote Karte.