Gelsenkirchen. . Beim Spiel gegen den VfL Bochum vergaßen die Königsblauen ihren Keeper Norbert Nigbur in der Kabine. Er kam wegen einer Behandlung am Knöchel fünf Minuten nach der Halbzeitpause zu spät zurück aufs Spielfeld, doch die Bochumer hatten nicht einmal aufs Tor geschossen.
Als sich Norbert Nigbur am 14. September 1974 in die Halbzeit rettet, ahnt er nicht, dass er an diesem Tag eines der kuriosesten Kapitel der Fußballgeschichte schreiben würde. Der Bochumer Stürmer Hans Walitza hat ihn fünf Minuten vor der Pause am Knöchel erwischt, der Torwart des FC Schalke 04 sehnt die Behandlung herbei.
Die Kabinen im alten Ruhrstadion sind damals dreigeteilt: Umkleidebereich, Massageraum, Duschen. Der Torwart bleibt allein im dritten Raum, er zieht den Fußballschuh aus, packt einen Kühlbeutel auf die lädierte Stelle und sagt zum Betreuer Ede Lichterfeld: „Ruf mich, wenn ihr rausgeht.“
Keiner merkt, dass der Keeper fehlt
Als er nichts mehr hört, wird er stutzig. Die Zwischentüren sind verschlossen. Er geht in den zweiten Raum: keiner da. Aber er denkt noch immer: In Kabine eins warten alle auf mich. Irrtum. Er greift zur Klinke und kommt sich vor wie ein Bühnenkünstler, der nach dem Öffnen des Vorhangs in einen leeren Saal blickt. Alle sind längst weg. Sie haben ihn vergessen.
Fußballschuhe an, Handschuhe an – und ab nach draußen. Ein Eisverkäufer mit einem Bauchladen kommt Norbert Nigbur entgegen und sagt: „Du musst dich beeilen, die haben schon angefangen.“
Wie bitte? Tatsächlich, die zweite Halbzeit läuft bereits. Die Schalker Spieler, die Bochumer Spieler, der Schiedsrichter, die Linienrichter – keiner hat etwas bemerkt. Auch Ede Lichterfeld auf der Schalker Bank träumt weiter. Nur die Zuschauer werden unruhig. Die ersten pfeifen.
„Ich muss aufs Spielfeld, ich bin der Torwart.“
Norbert Nigbur muss am Spielfeldrand die Lücke in einem Ring von Polizisten finden. Er tippt einen von ihnen an und sagt: „Ich muss aufs Spielfeld, ich bin der Torwart.“ Der Polizist dreht sich nicht um, sagt nur: „Ja, das kann jeder erzählen.“ Erst ein Kollege macht ihn darauf aufmerksam, dass der Posten zwischen den Pfosten unbesetzt ist.
Fünf Minuten sind vergangen, bis Norbert Nigbur wieder seinem Handwerk nachgeht. „Unfassbar“, sagt er noch heute. „Dass die Bochumer nicht einmal aufs Tor geschossen haben...“ VfL-Recke Ata Lameck sagt nach dem Spiel zu Norbert Nigbur: „Wir haben nicht gesehen, dass du nicht da warst. Wie konnten wir nur so blind sein?“
Norbert Nigbur muss immer noch lachen, als er das erzählt. „Wegen dieser Geschichte habe ich Post aus den USA und aus Brasilien bekommen“, sagt er. „Sie ist ja auch weltweit einzigartig. Sie wurde aber häufig falsch wiedergegeben. Ich muss richtig stellen, dass ich nicht auf der Toilette gesessen habe.“
Nigbur hat sogar Schalker Anleihen gekauft
64 ist Norbert Nigbur mittlerweile. Dass er älter wird, spürt er allenfalls an den Augen. Er geht ins Fitnessstudio, er trifft sich zum Golfen mit den alten Schalker Freunden, und er hält sich sprichwörtlich selbst auf Trab: Der Trabrennsport ist seit vielen Jahren seine große Leidenschaft. Norbert Nigbur besitzt Pferde und steigt als Amateurfahrer noch selbst in den Sulky.
Aber auch in der Fußballszene blieb der ehemalige Top-Torwart bestens vernetzt. Die Liebe zu seinem Klub ist nie verglüht, er hat sogar Schalker Anleihen gekauft. „Schalker bleibe ich ein Leben lang“, sagt er. Und doch ist er seit vielen Jahren enttäuscht von den wechselnden Chefs an der Vereinsspitze. Er fühlt sich, vorsichtig formuliert, übergangen. Wäre sein Rat gefragt, betont er, würde er sich auch ehrenamtlich engagieren. „Aber die glauben ja, wir hätten früher mit einer Eisenkugel gespielt.“
Die Ehrenkarte für den La-Ola-Klub wurde entzogen
Bei den Münchener Bayern seien alle früher erfolgreichen Spieler irgendwie eingebunden worden. „Wenn ich mich aber selbst im Schalke-Museum sehen möchte, muss ich Eintritt zahlen. Es geht mir nicht um die paar Euro. Es geht mir um die Stilfrage. Wenn ich mich mit anderen Spielern aus dem Weltmeister-Aufgebot von 1974 treffe, wollen die das alles gar nicht glauben.“ In der Arena war er nicht mehr, seit ihm vor Jahren ohne Angabe von Gründen nach einer Saison die Ehrenkarte für den La-Ola-Klub entzogen wurde, die er gerne auch selbst bezahlt hätte.
Die Fans aber haben ihn nie vergessen, sie wählten ihn zum Schalker Jahrhunderttorwart. Kein Wunder, denn Norbert Nigbur war der Rückhalt jenes faszinierenden Teams von 1972, das von nicht wenigen Anhängern als das beste der Schalker Geschichte verehrt wird. Jeder Einzelne eine Legende: Libuda, Fischer, Fichtel, die Kremers-Zwillinge, Rüssmann – und eben Nigbur, der Flugkünstler, der mit seinen Reflexen, seiner Sprungkraft und seiner Geschmeidigkeit die gegnerischen Angreifer in Psychiater-Praxen trieb. „Mein Rekord von 25 gehaltenen Elfmetern steht heute noch“, bekräftigt Norbert Nigbur mit berechtigtem Stolz.
Bundesliga-Skandal als dunkelste Ära
Die 72er wurden DFB-Pokalsieger und Vizemeister – mit umgerechnet 76 Punkten, die in fast allen Jahren danach zum Titel gereicht hätten. Damals aber triumphierten ganz knapp die großen Bayern mit ihren Ausnahmestars wie Beckenbauer und Müller.
90 Minuten Vergangenheit
„Was wäre da noch möglich gewesen, wenn wir mal drei, vier Jahre zusammen geblieben wären?“, fragt sich Norbert Nigbur wehmütig. Der Bundesliga-Skandal, die dunkelste Ära in Schalkes Klubhistorie, machte auch ihm persönlich einen Strich durch die Rechnung, obwohl er mit dem 1971 verschobenen Spiel gegen Arminia Bielefeld nichts zu tun hatte, weil er auf der Tribüne gesessen hatte – verletzt und nicht eingeweiht. „Meine Stimme hatte Gewicht“, sagt er, „ich hätte das vielleicht verhindern können.“
Zufriedener Blick zurück
Für die deutsche Nationalmannschaft spielte Norbert Nigbur nur sechsmal – Konkurrent Sepp Maier hatte den Bayern-Bonus. Dass Bundestrainer Helmut Schön den Schalker wegen seiner langen Haare nicht mochte, hält er aber für ein Gerücht: „Dann hätten Beckenbauer und Netzer auch nicht spielen dürfen...“
Norbert Nigbur blickt zufrieden auf seine Karriere zurück. Er hat sein Auskommen, weil er schon früh an später dachte: „Ich stamme aus einer Bergmannsfamilie“, erzählt er. „Mein Vater hat mir gesagt: Wenn du eine Mark verdienst, musst du 80 Pfennig sparen und kannst 20 Pfennig ausgeben. Daran habe ich mich gehalten.“