Essen. Horst-Gregorio Canellas, Präsident von Kickers Offenbach, enthüllte am 6. Juni 1971 bei seiner Geburtstagsfeier den Bundesliga-Skandal.
Welch ein durchtriebener Plan. Da lädt jemand zu einem Gartenfest anlässlich seines 50. Geburtstags ein, doch er hat gar nicht vor, mit seinen Gästen zu feiern. Er will sie schockieren, er will die Gelegenheit nutzen zu einer außergewöhnlichen Inszenierung vor Nichtsahnenden.
Horst-Gregorio Canellas, damals Präsident von Kickers Offenbach, ist an jenem 6. Juni 1971 ohnehin nicht zum Feiern zumute, denn am Tag zuvor ist sein Verein aus der Fußball-Bundesliga abgestiegen. Am letzten Spieltag der Saison 1970/71, die als die schändlichste in die Geschichte des deutschen Fußballs eingehen sollte.
Die Offenbacher Kickers verloren mit 2:4 beim 1. FC Köln und standen damit gemeinsam mit Rot-Weiss Essen als Absteiger fest. Canellas aber sieht nicht ein, es dabei zu belassen. Denn er weiß mehr.
DFB-Funktionäre tun erste Hinweise von Canellas als „vage Vermutungen“ ab
Der Deutsch-Spanier, ein Südfrüchte-Importkaufmann, hatte schon im Mai herausgefunden, dass in der Bundesliga ein übles Spiel gespielt wurde. Es ging um Schiebung, es ging um Betrug. Canellas gab einigen DFB-Funktionären Hinweise, doch die wurden als „vage Vermutungen“ abgetan.
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Canellas beschließt daher, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Und er schlägt ganz groß zu. Vor nun genau 50 Jahren stellt er in seinem Garten in der südhessischen Kleinstadt Obertshausen ein Tonbandgerät auf den Tisch. „Wir sind durch Betrug aus der Bundesliga abgestiegen“, sagt er. „Ich werde das beweisen.“ Dann lässt er das Band laufen.
Zu hören sind Mitschnitte von Telefongesprächen, die Canellas führte – mit prominenten Bundesliga-Fußballern. Thema ist der letzte Spieltag, konkret geht es um die für den Abstiegskampf relevanten Partien 1. FC Köln gegen Kickers Offenbach und Hertha BSC gegen Arminia Bielefeld. Manfred Manglitz, Nationaltorwart aus Köln, will für einen Offenbacher Auswärtssieg 100.000 Mark haben. Er lässt Canellas wissen, dass er nicht alle Mitspieler einweihen wolle. Der Berliner Bernd Patzke, ebenfalls Nationalspieler, möchte sein Team für einen Sieg gegen Bielefeld von Offenbach belohnen lassen. Canellas geht darauf ein, er erfährt dabei aber auch, dass es bereits ein Schmiergeld-Angebot aus Bielefeld gibt. Für 140.000 Mark „werden wir versuchen, Arminia zu schlagen“, sagt Patzke. Bielefeld aber gewinnt in Berlin 1:0, Offenbach ist raus. Und Canellas lässt die Bombe platzen.
Bundestrainer Helmut Schön verlässt nach der Enthüllung entsetzt das Gartenfest
Bundestrainer Helmut Schön gehört auch zu den Gästen der Scheinfeier, entsetzt verschwindet er schon wenige Minuten nach der Tonband-Präsentation. Schön ahnt, dass das erst der Anfang sein würde. In der Tat: Jetzt kann der Deutsche Fußball-Bund nicht mehr die Augen verschließen, jetzt folgen zahlreiche weitere Enthüllungen, die das gigantische Ausmaß des Bundesliga-Skandals verdeutlichen: Im Abstiegskampf sind fast eine Million Mark an Bestechungsgeldern geflossen.
Hans Kindermann wird in jener Zeit berühmt. Der DFB-Chefankläger, in den Medien wahlweise als „Papa Gnadenlos“ oder „Großinquisitor“ tituliert, ist den Sündern auf den Fersen, lässt nie locker, verbeißt sich auch in Details.
Abenteuerliches wird bekannt. Der für Hertha spielende Ungar Zoltan Varga raste in der Halbzeit des Spiels gegen Bielefeld zu einer öffentlichen Telefonzelle, um seine Frau zu fragen, ob das Geld schon da sei – jene 40.000 Mark, die ihm vorher versprochen worden waren. Als er ein Nein hörte, entschloss er sich dazu, in der zweiten Halbzeit auf Sieg zu spielen. Beinahe hätte er seinen Kollegen damit die krumme Tour vermasselt.
Acht Schalker Spieler schwören einen Meineid und entgehen nur knapp Gefängnisstrafen
Die halbe Bundesliga ist damals an dem Skandal beteiligt, doch nur dem FC Schalke 04 donnert später der Ruf „FC Meineid“ entgegen. Denn acht Schalker Spieler entgehen nur knapp Gefängnisstrafen, weil sie geschworen haben, kein Geld aus Bielefeld für eine 0:1-Niederlage kassiert zu haben. Sie haben Angst vor lebenslangen Sperren, deshalb wird ihnen schließlich Eidesnotstand zugebilligt.
53 Spieler, sechs Funktionäre und zwei Trainer werden bestraft. Zwei Vereine erwischt es pauschal: Arminia Bielefeld und Kickers Offenbach werden die Lizenzen entzogen.
Canellas wird lebenslang gesperrt, obwohl er betont, nur zum Schein verhandelt zu haben. Fünf Jahre später wird er begnadigt. Längst nicht alles sei ans Tageslicht gekommen, erzählt er vor seinem Tod im Jahr 1999. „Ich kenne noch mehr Beteiligte, aber ich bin zu müde, um alles noch einmal neu aufzurollen.“ Sein berühmtes Tonbandgerät, das 13 Kilo schwere „Magnetophon 204 TS“ von Telefunken, Baujahr 1968, zählt heute zu den geschichtsträchtigen Exponaten im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund.