Gelsenkirchen. Klaus Berge war Profi auf Schalke und Sportdirektor bei Union. Vor dem Duell wähnt er S04 massiv unter Druck, doch er sieht auch positive Signale

Am Donnerstag vergangener Woche nahm sich Klaus Berge (59) eine knapp zweistündige Auszeit. „Ich habe meinen Laptop aufgeklappt und das Schalker Testspiel gegen Paderborn (5:1; die Redaktion) auf Youtube angeguckt.“ Nach dem Schlusspfiff hatte der ehemalige S04-Profi (1983 bis 1985 sowie 1987/88) neue Hoffnung geschöpft: „Das sah phasenweise richtig nach Fußball aus, was Mark Uth & Co. da gespielt haben“, urteilt Berge. „Was ich bemerkenswert fand: Nach dem 0:1 gingen nicht – wie sonst – die Kinnladen runter, sondern ein sichtbarer Ruck durch die Mannschaft. Nach dem Motto: Wir können jetzt nicht auch noch gegen Paderborn verlieren ...“

Doch als ehemaliger Trainer (u.a. Rot-Weiss Essen, Preußen Münster) und aktueller Spielerberater weiß Berge auch: Am Ende zählen nur Punkte in der Liga, erst recht in der aktuellen Situation der Königsblauen. „Für Schalke hat das kommende Spiel gegen Union eine immense Bedeutung im Hinblick auf den Rest der Saison. Du musst jetzt endlich mal wieder ein Erfolgserlebnis einfahren. Und, bei allem Respekt: Wenn du Union zu Hause nicht schlägst – gegen wen willst du dann gewinnen?“ Für die Berliner sei das Auswärtsspiel in der Veltins-Arena hingegen eine Riesenchance: „Holen sie am Sonntag drei Punkte, hätten sie zunächst mal ein Riesen-Punktepolster zwischen sich und Schalke gepackt.“

2001 war er Spion für Union Berlin

Klaus Berge macht kein Hehl daraus, dass er am Sonntag zu Königsblau hält – auch wenn ihn mit beiden Klubs einiges verbindet. Der gebürtige Hertener hatte für die Saison 2001/02 bereits als Sportdirektor beim designierten Zweitliga-Aufsteiger aus Berlin-Köpenick zugesagt, als ihn eine heikle Vorab-Mission ereilte: „Nachdem Union im Frühjahr 2001 das Pokalfinale erreicht hatte, fragte der damalige Trainer Georgi Wasiliew bei mir an, ob ich den Endspielgegner Schalke für ihn beobachten könnte.“ Für Berge, der damals ohnehin jeden S04-Auftritt live verfolgte („Nach der verpassten Meisterschaft habe ich geheult“), war das einerseits kein Problem. „Ich sagte zu, doch andererseits fiel es mir schwer, schließlich war ich im Herzen Schalker“, bekennt er, um fast etwas erleichtert anzufügen: „Letztlich haben meine Informationen nicht dazu geführt, dass Schalke verlor.“

Klaus Berge, früher Profi, Sportdirektor und Trainer - heute Spielerberater.
Klaus Berge, früher Profi, Sportdirektor und Trainer - heute Spielerberater. © WAZ FotoPool | SCHILD, Thomas

Als Sportdirektor blieb Klaus Berge anschließend nur ein Jahr bei den „Eisernen“. Am Ende der Saison 2001/02 standen der sichere Klassenerhalt in der 2. Liga und eine einvernehmliche Trennung: „Eigentlich hatte ich in Berlin einen Dreijahresvertrag unterschrieben“, erzählt der Ex-Profi, der sich für Union von seinem Beamtenjob bei der Stadt Recklinghausen hatte beurlauben lassen – allerdings nur für ein Jahr. „Danach musste ich mich entscheiden: Berlin oder weiter Beamter. Ich wählte die sichere Variante und ging zurück in den Ruhrpott – auch, weil mir mir meine Familie fehlte. Außerdem war im Profi-Fußball gerade die Kirch-Krise ausgebrochen, die TV-Gelder waren in Gefahr, keiner wusste, wie es für Klubs wie Union wirtschaftlich weitergehen würde. “

Heute heißt die Krise „Corona“, und Berge, der als Sechsjähriger erstmals in der Glückauf-Kampfbahn stand, sorgt sich vor allem um seine Kindheitsliebe Schalke: „Es ist zuletzt viel geredet und geschrieben worden über das Potenzial der Mannschaft. Aber was bedeutet schon Potenzial im Fußball? Das ist nicht messbar und wird somit erst greifbar, wenn man Ergebnisse einfährt.“ Könne eine Mannschaft ihr Potenzial über längere Zeit nicht ausschöpfen, so Berge, lägen die Gründe oft im menschlichen Bereich, „und zwar meistens bei einzelnen Spielern. Gegenüber einer meiner Mannschaften habe ich ein Teamgefüge mal mit einer Rezeptur für Multivitamin-Saft verglichen: Elf Einzel-Zutaten ergeben ein super-gutes Produkt, schüttest du aber nur eine Prise Salz mit rein, ist alles versaut.“

Berge lobt Schalkes Gegner und den Anti-Klopp

Wie man als Mannschaft funktionieren kann, wenn die Zusammensetzung und die Hingabe stimmen, demonstriert derzeit der 1. FC Union, wie Berge erklärt: „Diese Truppe agiert immer am Limit, sie spielen sehr körperbetont und gehen ihrem Gegner regelrecht auf den Sack. Unions Sportdirektor Oliver Ruhnert (ehemaliger Leiter der Schalker Knappenschmiede; die Redaktion) hat in jüngerer Vergangenheit viele Transfers gemacht, die gut funktioniert haben: Christian Gentner etwa oder Max Kruse. Zudem hat Union in Urs Fischer eine Art Anti-Klopp als Trainer – immer ruhig, immer bedächtig – aber trotzdem mit einer sehr klaren Ausrichtung und Zielsetzung.“

Doch auch Schalkes neuer Chefcoach Manuel Baum macht bislang einen guten Eindruck auf Klaus Berge – trotz der 0:4-Pleite in zum Einstand in Leipzig: „Ich habe irgendwo ein Interview mit Baum gesehen, da kam er sehr kompetent und unaufgeregt rüber“, analysiert das Mitglied der Schalker Aufstiegsmannschaft von 1984. Jetzt komme es darauf an, trotz der komplizierten Konstellation im Kader – mit Spielern, die bereits ausgemustert waren – eine funktionierende Einheit zu bilden. „Da gehst du als neuer Trainer unbelastet ran und kannst frische Impulse setzen“, weiß Berge. „Dennoch ist es eine Herkulesaufgabe, Schalke nach 19 Bundesliga-Spielen ohne Sieg wieder in die Spur zu bringen.“

Klaus Berge (links) in seiner letzten Saison auf Schalke 1987/88 gegen den damaligen Stuttgarter Gerhard Poschner.
Klaus Berge (links) in seiner letzten Saison auf Schalke 1987/88 gegen den damaligen Stuttgarter Gerhard Poschner. © Imago

Gemessen am aktuellen Selbstbewusstsein, so Berge, spräche am Sonntag vieles für Union, das mit vier Zählern aus drei Partien mehr als ordentlich gestartet ist. Doch das müsse nichts bedeuten, wie der ehemalige Mittelfeldspieler erklärt: „Als ich 2001 meinen Trainerschein machte, schrieb ich gemeinsam mit Ex-Schalke-Keeper Holger Gehrke eine Seminar-Arbeit über die jeweilige psychologische Ausgangslage von Schalke und Union vor dem Pokalfinale. Union war frisch in die 2. Liga aufgestiegen und hatte als Sensations-Endspielteilnehmer nichts, aber auch gar nichts zu verlieren.“ Den Schalkern hingegen war eine Woche vor dem Finale in der Nachspielzeit die Meisterschale aus den Händen gerissen worden, sie waren mental am Boden. „Union war also psychologisch klar im Vorteil“, so Berge. Gewonnen hat am Ende dennoch Königsblau – mit 2:0.

Ein solch komfortables Resultat wäre Klaus Berge am Sonntag mehr als recht, doch er glaubt an ein brutal enges Match: „Das wird ein Geduldsspiel, in dem sicher nicht allzu viele Tore fallen werden. Ich sage mal: 1:0 für Schalke.“ Dann atmet er einmal kurz durch die Zähne und fügt an: „Das wäre so wichtig.“