Gelsenkirchen. Schalkes Einkaufs-Budget für die neue Saison ist schmal, doch Rüdiger Abramczik weiß aus Erfahrung: Das muss kein schlechtes Vorzeichen sein.
Mit spitzen Fingern zog S04-Coach David Wagner nach dem letzten Testspiel des Sommers (3:0 gegen Bochum) das Futter seiner leeren Hosentaschen heraus. Keine Kohle!, so die klare Botschaft. Allzu spektakuläre Neuzugänge sind in diesem Jahr nicht drin, am Dienstag lieh Schalke Goncalo Paciencia von Eintracht Frankfurt aus. Doch während manch ein Fan den Verein schon im Abstiegsstrudel wähnt, erinnert Schalkes legendärer Rechtsaußen Rüdiger Abramczik (64) daran, dass auch kleine Investitionen durchaus große Erfolge nach sich ziehen können.
„Entscheidend ist nicht, wie viel man einkauft, sondern wie viel man aus dem vorhandenen Potenzial rausholt. Dazu gehört auch, dass Schalke die guten jungen Spieler, die man hat, stetig weiterentwickelt“, sagt Abramczik. Unterm Strich, so „Abi“, sei die fußballerische Qualität im Kader gut genug, dass man nicht schwarzmalen müsse. Im Gegenteil ...
Schon die Kremers-Zwillinge kamen als Talente und wurden zu Stars
„Gerade Schalke hat in seiner Bundesliga-Geschichte oft bewiesen, dass man auch mit wenig Neueinkäufen viel erreichen kann“, erinnert Abramczik. Im Sommer 1971 etwa holte der damalige Präsident Günter Siebert lediglich ein junges Zwillingspaar von den Offenbacher Kickers: Die späteren Nationalspieler Helmut und Erwin Kremers (damals 22) galten als aufstrebende Jungprofis, waren jedoch von einer internationalen Karriere noch weit entfernt. Entsprechend verhalten waren die königsblauen Fans eingangs der Saison 1971/72, aus der Schalke – mit immer stärker werdenden Kremers-Zwillingen – letztlich als Vizemeister und Pokalsieger hervorging. Beinahe wäre es sogar das Double geworden, doch am 34. Spieltag unterlagen die Knappen im „Endspiel“ beim direkten Titelrivalen Bayern mit 1:5.
„Auch vor unserer Vizemeister-Saison 1976/77 hatte der Verein nicht groß eingekauft“, betont Rüdiger Abramczik. Bis auf Jugoslawiens Nationalkeeper Enver Maric (von Velez Mostar) präsentierten die Knappen ausschließlich „Neuzugänge“ aus dem eigenen Nachwuchs. Durchstarten sollte in jener Spielzeit vor allem der erst 19-jährige „Abi“, der seinem damaligen Trainer Friedel Rausch bis heute dankbar ist. „Friedel hat das Beste aus dem damaligen Kader herausgeholt, indem er uns Selbstvertrauen gegeben hat und jedem gesagt hat: Mach, dribbel, unternimm was! Egal, ob du jung oder alt warst“, verrät Abramczik. Den möglichen Meistertitel versemmelte ausgerechnet der einzige echte Neuzugang: Maric ließ am 28. Spieltag beim 0:1 gegen Saarbrücken einen harmlosen Ball durchrutschen. Am Ende betrug der Rückstand auf Meister Gladbach ein Pünktchen.
Die wegweisende Saison 1995/96, an deren Ende Schalke erstmals nach 19 Jahren wieder für den UEFA-Cup qualifiziert war, bestritt der Revierklub ebenfalls ohne spektakuläre Einkäufe. Der einzige Neue, der zuvor einen Bundesliga-Stammplatz inne gehabt hatte, war Uwe Weidemann vom MSV Duisburg. Die übrigen Zugänge galten entweder als Ergänzungsspieler wie Martin Max (Gladbach) und Tom Dooley (Leverkusen) oder waren in der Bundesliga noch gänzlich unbekannt wie Radek Latal (Sigma Olmütz), Oliver Held (Holstein Kiel) und ein gewisser David Wagner (Mainz 05). Schalkes Gesamt-Investitionen in jenem Sommer hatten nicht mal zwei Millionen Euro betragen, der Ertrag hingegen war riesig: Platz drei, die beste Platzierung seit 1977.
Die Rückkehrer sind wie Neuzugänge für Schalke
„Im Fußball entscheiden nicht die Namen der Neueinkäufe über das Abschneiden, sondern ob du eine funktionierende Mannschaft hast“, erklärt Abramczik. „Manchmal ist es sogar einfacher, Homogenität rein zu bekommen, wenn du nicht allzu viele Neue integrieren musst.“ Wobei man in Bezug auf die aktuelle Schalker Mannschaft eines nicht vergessen dürfe, betont der „Flankengott aus dem Kohlenpott“: „Die Spieler, die ewig lange verletzt waren, wie Stambouli, Mascarell oder Sané, und die Spieler, die ausgeliehen waren, wie Uth, Rudy oder Bentaleb, sind ja quasi Neuzugänge. Manch anderer Bundesligist wäre froh, wenn er im Sommer solch gestandene Profis und Nationalspieler hinzu bekommen hätte.“
Übrigens: Auch vor der berauschenden Saison 2000/01, als Schalke Pokalsieger und „Meister der Herzen“ wurde, fiel die königsblaue Shopping-Tour eher mau aus: Tomasz Hajto und Jörg Böhme holte man für zusammen rund 1,5 Millionen Euro von den Absteigern Duisburg und Bielefeld. Hinzu kam ein bereits 32-jähriger Andreas Möller, ablösefrei vom Beinahe-Absteiger BVB. Dass im Vorfeld der Saison keine große Euphorie aufkam, lag auch an der anfänglichen Abneigung vieler Fans gegenüber Möller, der mehr als einmal übel beschimpft wurde. „In diesem Jahr regen sich viele auf, dass man mit Vedad Ibisevic einen 36-Jährigen geholt hat“, sagt Abramczik, „aber das Alter ist doch nicht das Kriterium. Entscheidend ist, was einer kann – egal, ob jung oder alt – und wie du aus dem vorhandenen Material ein System formst, in dem jeder seine Stärken optimal einbringen kann, nicht bloß die erste Elf. Das ist die wesentliche Aufgabe des Trainers.“
Rüdiger Abramczik traut Schalke in der am Freitag in München beginnenden Saison 2020/21 sogar einen einstelligen Tabellenplatz zu: „Platz acht ist durchaus möglich, auch wenn das Auftaktprogramm mit den drei Auswärtspartien bei Bayern, Leipzig und Dortmund echt hart ist. Aber die beiden Heimspiele gegen Bremen und Union kannst, nein: musst du eigentlich gewinnen. Und wenn die Mannschaft dann nicht so ein Verletzungspech hat wie vergangene Saison, sehe ich sie eher so stark wie in der tollen Hinrunde – und keineswegs so schwach wie in der verkorksten Rückrunde.“