Gelsenkirchen. Teil fünf der Schalke-Serie: 1989 wäre Schalke 04 um ein Haar in die Drittklassigkeit gestürzt. Das legendäre Spiel gegen Blau-Weiß Berlin.

Am 37. und vorletzten Spieltag der Zweitliga-Saison 1988/89 erlebte Schalke eine Explosion der Erleichterung. Der Autokonzern Mazda hatte die Eintrittskarten subventioniert: Haupttribüne 15 Mark, Stehplatz vier Mark – und 66.000 Zuschauer erlebten, wie Ingo Anderbrügge (37.), Rainer Edelmann (42.), Michael Klinkert (74.) und Günter Schlipper (83.) die Königsblauen zu einem 4:1-Heimsieg über Blau-Weiß 90 Berlin schossen. Vorausgegangen waren ein Moment der Totenstille, als Berlins Robert Holzer das 0:1 erzielte (27.). Schalke stand zu diesem Zeitpunkt mit eineinhalb Beinen in der Amateur-Oberliga. „Wir Spieler aber wussten auch nach dem Rückstand: Mit dieser blau-weißen Wand im Rücken werden wir das Ding heute gewinnen!“, erinnert sich Schalkes damaliger Mittelfeldmotor Andreas Müller. „An diesem Tag hast du richtig gespürt, wie viel Energie in Schalke steckt.“

Bei einem Abstieg hätte es für Schalke in die Insolvenz gehen können

Nach dem Schlusspfiff feierte Königsblau den Klassenerhalt, als hätte man soeben den Europapokal der Landesmeister gewonnen. Mannschaft, Vorstand und Betreuer ließen gemeinsam mit Revier-Kultsänger Ährwin Weiß das Clubhaus erbeben und plünderten sämtliche Biervorräte. Viele Fans hockten noch Stunden nach dem Schlusspfiff auf den Tribünen und weinten stille Tränen der Erlösung, denn sie spürten: Ein Sturz in die Abgründe der damals drittklassigen Oberliga hätte dem sportlich und finanziell schwer angeschlagenen Verein vermutlich das Genick gebrochen. „Auch der Mannschaft war bewusst, dass es bei Abstieg in die Insolvenz gehen könnte“, gesteht Andreas Müller rückblickend. „Natürlich spürst du so was als Spieler, auch wenn du es so gut wie möglich verdrängst, um dich aufs Sportliche konzentrieren zu können.“

Wie brisant Schalkes Situation damals war, offenbart auch ein Blick auf die Zweitliga-Abschlusstabelle jener Saison: Zwei der vier Absteiger (Viktoria Aschaffenburg und Kickers Offenbach) spielen heute viertklassig, einer (Union Solingen) musste 1990 Konkurs anmelden und ist komplett von der Bildfläche verschwunden. Auch Schalke befand sich in den wilden 1980er-Jahren im ständigen Existenzkampf, fußballerisch wie wirtschaftlich. Die daraus resultierenden ersten beiden Bundesliga-Abstiege 1981 und 1983 konnten jeweils umgehend repariert werden. Doch das Auf und Ab war dem Verein zusätzlich an die Substanz gegangen. Als die Knappen am 14. Mai 1988 zum dritten Mal als Absteiger feststanden, waren sie viel zu entkräftet für eine weitere direkte Rückkehr in die Erstklassigkeit.

Zwar tätigte S04 in jenem Sommer einige wegweisende Verpflichtungen, darunter die späteren „Eurofighter“ Jens Lehmann (von Schwarz-Weiß Essen), Ingo Anderbrügge (Borussia Dortmund) und Andreas Müller (Hannover 96). Doch insgesamt fehlte es an Qualität und Erfahrung, um in der 2. Liga oben mitmischen zu können. „Man wollte bewusst mit einer frischen, jungen Truppe in die Saison gehen“, erinnert sich Müller, der damals mit 26 Jahren ältester Schalker Feldspieler war. „Natürlich haben alle auf Schalke vom erneuten Wiederaufstieg geträumt, aber die Realität sah anders aus: In der damaligen 2. Liga konntest du ohne eine gewisse Routine und Abgebrühtheit nur ganz schwer bestehen.“

Die Rettung mit Günter Eichberg und Peter Neururer

Schalkes Saisonstart geriet zum Desaster: 4:14 Punkte aus den ersten neun Partien bedeuteten den 19. und vorletzten Platz sowie die Trennung von Trainer Horst Franz. Auch Nachfolger Diethelm Ferner, der Schalke 1984 zum sofortigen Wiederaufstieg geführt hatte, mühte sich vergeblich – trotz einer anfänglichen Aufholjagd mit 11:1 Punkten. Nach dem 26. Spieltag und einem 0:1 in Osnabrück musste er gehen. Schalke lag, wie bei schon bei Ferners Ankunft, auf dem 19. Platz. Und damit nicht genug: Mitten in der sportlichen Krise erlebte der Klub auch noch ein unwürdiges Theater um den Präsidentenstuhl. Ein gewisser Michael Zylka war am 21. November 1988 ins höchste Amt auf Schalke gewählt worden, trat jedoch drei Tage später völlig überfordert zurück.

Antrittsrede im Januar 1989: Präsident Günter Eichberg.
Antrittsrede im Januar 1989: Präsident Günter Eichberg. © imago/Horstmüller | imago sportfotodienst

Die Rettung vor dem tiefsten Fall in der Schalker Vereinsgeschichte ist bis heute mit zwei Namen verknüpft: Günter Eichberg, ein exzentrischer Betreiber von Privatkliniken, wurde von den S04-Mitgliedern im Januar 1989 mit 1.147 von 1.369 Stimmen zum neuen Präsidenten gekürt. Peter Neururer, ein Diplom-Sportlehrer aus Marl, übernahm Schalke im April 1989 auf dem vorletzten Platz und rettete den Klub mit 16:8 Punkten aus den letzten zwölf Saisonspielen vor dem Fall ins Bodenlose. „Neururer als Trainer war mit seiner positiven, motivierenden Art ein absoluter Glücksgriff“, bescheinigt Andreas Müller. „Er hat uns damals eine Woche lang im Trainingslager in Bad Bertrich dermaßen geschliffen, dass wir kaum noch die Treppe rauf und runter kamen. Danach fühlten wir uns fit wie nie und waren überzeugt: Wir bleiben drin! Zumal Neururer uns auch psychisch in Bestform gebracht hatte. Gefühlt waren wir plötzlich alle Nationalspieler.“

Zur darauffolgenden Saison 1989/90 aber setzte Boss Eichberg lieber auf „echte“ Nationalspieler und holte Ex-DFB-Star Matthias Herget sowie Aleksandr Borodjuk und Wladimir Ljuty aus der damaligen Sowjetunion. Dennoch sollte der Aufstieg erst 1990/91 unter Neururer-Nachfolger Aleks Ristic gelingen. Schalkes dritte Rückkehr in die Bundesliga war extrem kostspielig, was bereits die nächste Krise heraufbeschwor. Eichberg hatte nämlich eine dem Verein vorgelagerte Marketing GmbH gegründet, die vor allem einen Zweck hatte: die Löcher in der blau-weißen Finanzierungsdecke mit neuen Löchern zu stopfen. Diese Praxis konnte nicht lange gutgehen und gipfelte 1993 im „Eichberg-Skandal“, der Schalke erneut an den Rand des Abgrunds brachte.