Gelsenkirchen. Schalkes Ex-Manager Andreas Müller über einen Saison-Abbruch und einen „komplett veränderten Fußball“. S04 prophezeit er „einen Drahtseilakt“.
Andreas Müller (57) ist im Moment gut zu erreichen: Seit zwei Wochen hat er sein Haus nicht verlassen – er hält sich streng an die Vorgaben im Kampf gegen das Coronavirus. Am Telefon nimmt sich Müller viel Zeit, um mit der WAZ darüber zu reden, was dem Fußball jetzt bevorsteht. Er kennt das Geschäft von allen Seiten: Auf Schalke war er Spieler (von 1988 bis 2000) und Manager (bis 2009).
Herr Müller, an diesem Dienstag beraten die 36 Profiklubs, wie es im deutschen Fußball weitergeht. Welche Beschlüsse erwarten Sie?
Andreas Müller Klar scheint ja die Deadline bis Ende April zu sein, so lange wird sicher nicht gespielt werden. Ich persönlich sehe es eher so, dass man die Saison, wenn überhaupt, erst im Juni im Schnelldurchlauf zu Ende bringen wird.
Bundesliga bereits im Mai halten Sie also nicht für realistisch?
Ich will da nicht spekulieren, aber klar ist doch: Es ist jetzt an der Zeit, Geduld zu haben, bis die Ansteckungsgefahr gebannt ist – wann das sein wird, weiß heute kein Mensch. An erster Stelle steht jetzt, Leben zu retten, dafür machen ganz viele Menschen in diesem Land gerade einen wahnsinnig guten Job. Alle anderen sollten sich an die Vorgaben halten. Den Fußball trifft das hart, aber das gilt für andere Menschen in ihren Lebensbereichen auch. Ich halte es übrigens für fatal, nach nur einer Woche der Kontaktsperre jetzt schon eine öffentliche Diskussion über Lockerungen zu führen, denn das bringt die Menschen nur dazu, unvorsichtig zu werden. Das ist aus meiner Sicht unverantwortlich.
Die DFL sieht in Geisterspielen für viele Vereine die einzige Überlebenschance. Was halten Sie davon?
Ich habe mir das Spiel Gladbach gegen Köln angeschaut – das war surreal. Der Fußball lebt von Emotionen. Aber die DFL kennt die Zahlen der Vereine, sie weiß: Ohne Zuschauer zu spielen ist für die Klubs wirtschaftlich besser als gar nicht zu spielen, denn wenn gar nicht mehr gespielt wird, brechen auch noch die Einnahmen vom Fernsehen und von den Sponsoren weg. Die DFL wird alles daransetzen, die Saison zu Ende zu spielen.
Muss sich die DFL nicht trotzdem auch mit der Möglichkeit eines Abbruchs der Saison beschäftigen?
Ja, natürlich – und das hat sie mit Sicherheit auch schon getan. Irgendwann läuft dir im Kalender die Zeit weg. Mit dem Worst Case musst du immer rechnen – auch dieses Szenario muss geplant werden.
Wie sollte die Liga dann in dieser Saison gewertet werden?
Gegenfrage: Der FC Liverpool liegt in England uneinholbar vorne. Wäre es korrekt, wenn man dann sagt: Es gibt in diesem Jahr keinen Meister und keine Absteiger?
Schwierig. Was wäre aus Ihrer Sicht denn die fairste Lösung, wenn abgebrochen werden muss?
Ich habe keine Ahnung – man wird keine Lösung finden, die es allen recht macht. Vielleicht wäre es noch am fairsten, den derzeitigen Tabellenstand zu werten und die Ligen aufzustocken, damit es keine Absteiger gibt. Denn die Mannschaften, die jetzt auf den letzten Tabellenplätzen liegen, würden sonst mit Sicherheit dagegen vorgehen.
Wie beurteilen Sie im Moment die Solidarität in der Liga?
Dieses Thema kommt auf alle zu. Am meisten einzusparen ist bei den Spielern, und da ist die Solidarität zu 100 Prozent gegeben – das sieht man ja schon am Gehaltsverzicht bei vielen Vereinen, auch auf Schalke: Die Spieler sind solidarisch zu ihrem Klub und vor allem zu den Angestellten, die für den Klub arbeiten. Die Personalkosten machen bei vielen Vereinen 50 Prozent des Etats aus – da hofft man als Verein auf ein Entgegenkommen, und das zeigen die Spieler in solchen Situationen auch. Es geht dann nur mit ganz großer Solidarität.
Und die Solidarität unter den Vereinen? Denkt da nicht am Ende doch jeder mehr an sich und sein eigenes Überleben?
Die vier Champions-League-Starter haben ja schon auf 20 Millionen Euro verzichtet, aber diese 20 Millionen werden bei weitem nicht ausreichen. Wenn es noch lange dauert, bis wieder gespielt werden kann, ist noch viel mehr Solidarität gefragt: Dann wird man sehen, wie die Vereine, denen es wirtschaftlich noch gut geht, sich verhalten gegenüber den Klubs, die vielleicht in der Vergangenheit ein bisschen getrickst haben. Es sollte das Bestreben aller sein, dass der Spielbetrieb aufrecht erhalten werden kann mit allen Vereinen, die sich sportlich qualifiziert haben. Es bringt keinem etwas, wenn sich die Liga halbiert.
Sehen Sie so viele Klubs auf der Kippe?
Ich glaube, dass zwei Drittel der Vereine ganz große Probleme haben, sich dahin zu retten, bis der Spielbetrieb wieder aufgenommen wird.
Wo sehen Sie da Ihren Ex-Klub Schalke? Bei den großen Vereinen, die helfen, oder bei den Klubs, denen geholfen werden muss?
Auf Schalke war es immer schwierig, wirtschaftlich aus dem Vollen zu schöpfen. Aber: Schalke hat eine immense Strahlkraft und Power aufgrund seiner Zuschauer. Ich glaube schon, dass Schalke die Kraft hat, sich selbst zu retten – dieser Klub hat eine große Stärke. Die Verantwortlichen haben – das sieht man ja auch am Gehaltsverzicht im gesamten Verein – schon ihre Hausaufgaben gemacht. Jochen Schneider, in den ich großes Vertrauen habe, schätzt die Lage mit seinem Team realistisch ein. Ein Plan ist entwickelt. Aber eines darf man nicht vergessen.
Was meinen Sie?
Schalke kann es sich auf Dauer nicht leisten, nicht international zu spielen. Das hat man schon in den vergangenen Jahren gesehen, und jetzt kommt die Corona-Krise dazu. Das wird ein Drahtseilakt. Aber ich glaube, dass sie sich halten können.
Die Planungen der Vereine liegen brach. Wird der Fußball nach der Corona-Krise noch derselbe sein?
Der Fußball wird sich komplett verändern. Die Ablösesummen, die ins Uferlose gingen, wird es nicht mehr geben, und auch die Gehälter müssen nach unten korrigiert werden.
Bleiben wir beim Beispiel Schalke: Wie geht man als Verein mit verdienten Spielern um, deren Verträge auslaufen – etwa Daniel Caligiuri oder Benjamin Stambouli?
Die Vereine müssen auf die glasklare Entscheidung warten, wann wieder gespielt werden kann – vorher hat man keine finanzielle Sicherheit. Man kann den Spielern jetzt sagen: Wir wollen dich behalten, wissen aber nicht, was wir dir in Zukunft bezahlen können. Die Vereine werden Abstriche machen müssen in dem, was sie anbieten. Aber die Spieler wissen auch, dass andere Vereine ebenfalls nicht mehr zahlen können. Es wird ein Umdenken stattfinden müssen.
Und bei den Ablösesummen ist die Zeit vorbei, in denen zum Beispiel Bayern München für einen ordentlichen Verteidiger wie Lucas Hernandez 80 Millionen Euro zahlt?
In den nächsten zwei, drei Jahren glaube ich das schon – ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Verein den Mut hat, in einem solchen Fall nochmal so viel Geld auszugeben. Das gilt auch für einen Spieler wie Coutinho. Allerdings muss man differenzieren: Für die absoluten Top-Spieler werden weiter sehr hohe Preise bezahlt werden, aber wie viele gibt es davon? Höchstens fünf, weltweit. Insgesamt wird die Krise den Fußball vorsichtiger machen, die Vereine werden auch mal Rücklagen bilden. Aber es war ja auch abnormal, was in den vergangenen Jahren passiert ist. Das wird sich zurückbilden auf ein gesundes Maß.
Ihre Prognose für die nächsten Wochen?
Man wird ein Modell entwickeln, dass man zumindest diese Saison ohne Zuschauer zu Ende bringt. Es geht darum, dass die Liga erhalten bleibt. Aber alles muss unter der Prämisse stehen, dass die Gesundheit der Menschen gewährleistet ist.