Gelsenkirchen. Teil zwei der WAZ-Serie über die großen Schalke-Trainer: Otto Faist errang drei Deutsche Meisterschaften. Dann zerstörte der Krieg alles.

Das Schwarz-Weiß-Foto aus dem Jahr 1942 mutet befremdlich an. Am Rande des damaligen Pokalfinales, das Schalke mit 0:2 gegen 1860 München verlor, steht Knappen-Trainer Otto Faist in einer Gruppe von Funktionären und blickt eher beiläufig in die Kamera. Der damals 39-Jährige trägt keinen Anzug, wie damals üblich, sondern Soldaten-Uniform. Es ist das vierte Kriegsjahr, der dreimalige Meistercoach (1939, 1940, 1942) dient bereits seit Monaten in der Wehrmacht und hat für die Mission „Pokalsieg“ Sonderurlaub erhalten. Keine vier Jahre später, Anfang 1946, wird Faist in sowjetischer Kriegsgefangenschaft sterben – an Typhus und Entkräftung, wie Mitgefangene später berichten.

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Niemand kann heute sagen, wie viele Meisterschaften Faist und Schalke noch hätten feiern können. Fakt ist: Die Wirren und das Leid des 2. Weltkrieges durchkreuzten sämtliche sportlichen Pläne. Selbst damalige Stars wie S04-Rechtsaußen Ala Urban (1943 in Russland gefallen) mussten an der Front kämpfen. Lange galt auch Faist vor allem als Opfer des Endsieg-Wahns. Dabei war er, wie der „Schalker Kreisel“ vor einigen Jahren bei einem Gespräch mit Faists Sohn Manfred ermittelte, bereits kurz nach Hitlers Machtübernahme (1933) in die NSDAP eingetreten. Während des Krieges erwies sich Faist als überzeugter Soldat im Dienste des Nationalsozialismus: „Aber ein schmähliches Aufstecken gibt’s nicht, dafür bürgt der Führer ...“, schrieb er 1944 in einem Brief, den Faists Sohn dem FC Schalke 04 überlassen hat.

Rückblick: Sommer 1938. Die glorreichen Knappen, in den vorangegangenen fünf Jahren dreimal Deutscher Meister (1934, 1935, 1937), suchen einen Nachfolger für den allmählich verschlissenen Erfolgstrainer Hans „Bumbas“ Schmidt. Auf den hemdsärmeligen Franken folgt ein badischer Akademiker: Otto Faist, geboren in Karlsruhe, zuletzt bei Rot-Weiß Oberhausen tätig, gilt als Experte in Sachen Konditions- und Schnellkrafttraining, aber auch als profunder Fußballtheoretiker. Der frühere Leichtathlet hat sein Sportlehrer-Diplom an der Berliner Hochschule für Leibesübungen erlangt, unter dem späteren Fußball-Nationaltrainer Dr. Otto Nerz. Faists erster großer Erfolg als Coach ist der Gewinn der Balkanmeisterschaft 1932 mit dem Nationalteam Bulgariens. Zwei Jahre später folgt die Vize-Westfalenmeisterschaft mit dem SV Höntrop.

Kuzorra der eigentliche Chef?

Faists erfolgreichste Zeit aber steht noch bevor, sportlich wie wirtschaftlich: Beim FC Schalke 04 verdient er fortan 550 Reichsmark monatlich und damit das Vierfache eines durchschnittlichen Arbeiters. Im Gegenzug verantwortet der Herr Sportlehrer (zumindest laut Arbeitsvertrag) „die Ausbildung sämtlicher Fußball- und Handballmannschaften des Vereins und die Überwachung unserer Turn- und Tennisabteilung“. In besonders wichtigen Angelegenheiten allerdings erhält Faist laut Vertragstext tatkräftige Unterstützung: „Die Aufstellung der 1. und der Jungligamannschaft erfolgt durch Sie im Einvernehmen mit dem Spielobmann und dem Spielführer der betreffenden Mannschaft.“

Manfred Faist, der Sohn von Otto Faist. überließ dem Schalker Archiv den Nachlass seines Vaters.
Manfred Faist, der Sohn von Otto Faist. überließ dem Schalker Archiv den Nachlass seines Vaters. © Foto: FC Schalke 04

Spielführer der 1. Mannschaft ist natürlich Ernst Kuzorra, jahrzehntelang so etwas wie der heimliche Herrscher rund um die Glückauf-Kampfbahn. Faist selbst sagt einmal über die königsblaue Klublegende: „Ernst Kuzorra ist beileibe nicht immer Schalkes bester Spieler, aber er ist Spielführer und Wortführer.“ Und auch der heimliche Chefcoach? „Aus heutiger Sicht kann man schon den Eindruck erlangen, dass Otto Faist eher so etwas wie der Co-Trainer von Kuzorra war“, erklärt Schalkes Vereins-Historikerin Dr. Christine Walther. „Es ist schwer vorstellbar, dass Faists Vorgänger ,Bumbas’ Schmidt sich in diese Rolle gefügt hätte. Andererseits erwies sich diese neue Konstellation als Erfolgsmodell, der sportwissenschaftlich bewanderte Faist und der Praktiker Kuzorra ergänzten sich offenbar hervorragend.“

Das vielleicht größte Verdienst von Faist ist es wohl, Kuzorra und all die anderen großen Egos im deutschlandweit beliebten Starensemble unter einen Hut zu bringen – damit sich der „Schalker Kreisel“ erfolgreich weiter drehen kann. Und wie er das tut: Gleich in seiner Premierensaison (1938/39) führt Faist die Mannschaft ins Endspiel um die Deutsche Meisterschaft: 100.000 Zuschauer im Berliner Olympiastadion bejubeln einen epochalen 9:0-Sieg über Admira Wien.

Große Teile Gelsenkirchens liegen längst in Trümmern

Im Jahr darauf machen es Faists Knappen spannend und siegen an selber Stelle mit 1:0 gegen den Dresdner SC, für den der spätere Bundestrainer Helmut Schön als Mittelläufer agiert. Es folgen die Vizemeisterschaft 1941 (nach einem 3:4 im Finale gegen Rapid Wien) sowie der sechste und für 16 lange Jahre letzte Schalker Meistertitel im Jahr 1942, durch ein 2:0 gegen Vienna Wien. Dass Faists Team das Pokalhalbfinale 1943 gegen die Vienna mit 2:6 verloren hat, muss der S04-Trainer den Front-Nachrichten entnehmen. Details der Niederlage, insbesondere die unglückliche Rolle von Torwart Hans Klodt, schildert ihm Kuzorra in einem Brief: „... von 8 Schüssen aufs Tor waren 6 drin, aber fragen Sie nicht, was für welche“.

Große Teile Gelsenkirchens liegen zu dieser Zeit längst in Trümmern. Faists Ehefrau Cilly hat sich und die drei Kinder 1942 in die süddeutsche Provinz gerettet. Und das Familienoberhaupt, dieser erfolgreiche Trainer und glühende Soldat? Ein Jesuitenpater aus Recklinghausen, der den Sterbenden während seiner letzten Tage in russischer Gefangenschaft seelsorgerisch begleitet, wird später berichten: Otto Faist habe dem Nationalsozialismus reumütig abgeschworen.

Teil 3 der WAZ-Serie „Die großen Schalker Trainer“ erscheint demnächst.