Gelsenkirchen. In der Schalke-Serie „Saisonende – kommt jetzt die Wende?“ geht es um den Verlust an Typen. Nicht nur bei Naldo hätte man es anders lösen können.
Es ist eines der Bilder, die wie ein Mahnmal von der alten Saison in Erinnerung bleiben: Benjamin Stambouli steht mit verstörtem Blick auf dem Rasen – gerade haben die Ultras von ihm die Kapitänsbinde zurückgefordert. Stambouli, so der Vorwurf, sei nicht würdig, dieses Stück Stoff zu tragen, das die Hardcore-Fans der Schalker Mannschaft vor der Saison zum Zeichen der Verbundenheit verliehen hatten. Sie wollten es wieder zurück haben – mit Würde dem Spieler gegenüber hatte das allerdings auch nichts zu tun.
Der Franzose Stambouli musste die Prügel für die gesamte Mannschaft einstecken. Mehr noch: Für den gesamten Verein und dessen vollkommen verfehlte Personalpolitik. Die hat nämlich in den vergangenen drei Jahren zu einem dramatischen Verlust an Persönlichkeiten und an Identifikation geführt. Das war der Grund, dass Stambouli, ein ehrenwerter Profi, dem man selbst wenig Vorwürfe machen kann, überhaupt zum Schalker Spielführer aufsteigen konnte.
Fährmann ist der letzte Spieler aus einer anderen Schalke-Zeit
Eigentlich heißt der Schalker Kapitän ja nach wie vor Ralf Fährmann – der 30-Jährige ist der letzte im Kader übrig gebliebene Profi aus einer anderen Zeit. Fährmann kam schon mit 14 Jahren in die Knappenschmiede, und als er den Klub seines Herzens mit 20 Jahren einmal in Richtung Frankfurt verließ, ließ er sich extra eine Rückkehr-Klausel nach Schalke in den Vertrag einbauen. Das Vereinsmotto „Wir leben dich” ist für Fährmann keine Phrase.
Doch in der Rückrunde der vergangenen Saison verlor der Torwart seinen Stammplatz an den jungen Alexander Nübel – eine Entscheidung des damaligen Trainers Domenico Tedesco, die man aus sportlicher Sicht nachvollziehen konnte. Für das Team-Gefüge hatte sie jedoch Folgen. Denn der Mannschaft fehlten auf dem Platz und in der Kabine die Führungsfiguren, die sich gegen den Untergang stemmten. Erst zog der ob seiner Reservistenrolle enttäuschte Naldo nach Monaco, dann wurde Fährmanns Position geschwächt.
Sie hielten in der Vizemeister-Saison den Laden zusammen
In der Vizemeister-Saison 2017/18 wurde Schalkes Mannschaft in erster Linie von drei Spielern geleitet: Kapitän Ralf Fährmann war der emotionale Anführer, sein Stellvertreter Leon Goretzka der kluge Kopf und Routinier Naldo die integrative Kraft. Weil dieses Trio zusammen hielt, konnte man sicher sein, dass sie den Laden auch in schwierigen Situationen im Griff hatten. Dazu gab es den zwar eigenwilligen, aber innerhalb der Mannschaft anerkannten Max Meyer, der für Tedesco schon aufgrund seines Ehrgeizes einer der wichtigsten Spieler war – seinen Verlust hat der Trainer mehr als einmal beklagt.
Von diesem Zirkel an Führungsspielern ist nichts übrig geblieben, weil Goretzka ja schon vor der Saison zu Bayern München ging und auch Meyer schmollend das Weite suchte, nachdem er sich von Ex-Manager Christian Heidel nicht genug wertgeschätzt gefühlt hatte. Besonders der Verlust von Naldo aber war ein unerzwungener Fehler, wie man im Tennis sagen würde. Schalkes Torjäger-Legende Klaus Fischer sparte nicht mit Kritik: „Naldo war der beste Spieler im letzten Jahr, und nach drei Monaten war er plötzlich nicht mehr gut genug für Schalke 04? Da frage ich mich schon, was sich dieser Trainer vorgestellt hat.” Tedesco hat es nicht verstanden, Naldo noch überzeugend das Gefühl der Wichtigkeit zu vermitteln.
Ein Bundesliga-Manager glaubt, dass man den Fall Naldo hätte anders lösen können – er blickt ausgerechnet nach Dortmund: „Dort war ein Sebastian Kehl in seinen letzten Jahren auch kein Stammspieler mehr, aber er war für alle der Kapitän und hat die Binde getragen, wenn er zum Einsatz kam.” Schalke hat diesen Umgang mit verdienten Spielern in den vergangenen Jahren nicht mehr so hinbekommen. Das Produkt ist eine Mannschaft, die immer mehr ihre Gesichter verloren hat.
Mit Höwedes fing es an: Die Schalker Eigengewächse ohne Sonderstatus
Angefangen hat es damit, dass Benedikt Höwedes im Sommer 2017 von Tedesco die Kapitänsbinde entzogen bekam und den Verein daraufhin verließ, weil er auch um seine sportliche Stellung fürchtete. Ein Jahr später kämpfte Manager Heidel nur halbherzig um eine Vertragsverlängerung mit Sead Kolasinac – bei Heidel genossen die Spieler aus der Knappenschmiede keinen Sonderstatus, sondern sie wurden behandelt wie jeder andere auch. Diese Sichtweise ist umstritten. Schalkes Talentschmied Norbert Elgert etwa ist davon überzeugt, dass ein Spieler, der die spezielle Identifikation mit Schalke schon in der Jugend gelernt hat, später eine größere Bereitschaft in sich trägt, für seinen Klub alles zu geben. Spinnt man diesen Faden weiter, hätten zum Beispiel Sead Kolasinac oder auch Max Meyer das Zeug dazu gehabt, die neuen Gesichter von Schalke 04 zu werden.
Jetzt fehlt es dieser Schalker Mannschaft an Typen, an Persönlichkeiten und an Identifikation. Das interne Gefüge passt hinten und vorne nicht zusammen, Insider sprechen von „einem großen Scherbenhaufen”, der hinterlassen wurde. So konnte es dazu kommen, dass der arme Benjamin Stambouli zum Spielführer wurde und vor der Nordkurve die Prügel für eine verfehlte Personalpolitik bekam.