Berlin/Gelsenkirchen. Für Schalke-Profi Leon Goretzka wird das Duell mit den Bayern kein Spiel wie jedes andere. Der Rekordmeister hat den 22-Jährigen im Blick.
Manche Spieler lassen sich am besten beschreiben, indem man erzählt, was passiert, nachdem sie den Platz verlassen haben.
Fragt man Horst Hrubesch nach Leon Goretzka, erinnert sich der 66-Jährige an eine solche Begebenheit – als der Mittelfeldspieler einmal vom Feld ging und hinter ihm alles einstürzte. Im Mai 2012 saß der heutige DFB-Sportdirektor Hrubesch im Stadion von Ljubljana und sah Goretzka zum ersten Mal spielen. U17-EM-Finale zwischen Deutschland und Holland. Die DFB-Auswahl führt durch einen Treffer von Goretzka 1:0. Letzte Minute, Goretzka wird ausgewechselt. Hrubesch schreit auf der Tribüne innerlich: „Mach das bloß nicht!“ Momente danach steht es 1:1, Holland siegt später im Elfmeterschießen. EM-Titel adé, hallo Erkenntnis: Einen Spieler wie Goretzka nimmt man in wichtigen Partien nicht raus – einen, an dem sich die gesamte Statik einer Mannschaft ausrichtet. „Leon war der absolute Leader auf dem Platz“, sagt Hrubesch dieser Zeitung. „Nach ihm ging es bergab.“
Fast wäre Goretzka Kapitän geworden
Am Dienstag steht wieder ein wichtiges Spiel an. Goretzka empfängt mit Schalke 04 den FC Bayern (20.30 Uhr/Sky). Das ist deshalb ein pikantes Treffen, weil den Münchnern ein ausgeprägtes Interesse an dem 22 Jahre alten zentralen Mittelfeldspieler nachgesagt wird, dessen Vertrag im nächsten Sommer ausläuft. Domenico Tedesco, Schalkes junger Trainer, wird Goretzka nicht vom Feld nehmen. Der 32-Jährige überlegte nach dem Abgang von Benedikt Höwedes lange, Goretzka zum neuen Kapitän zu ernennen und tat es wohl nur nicht wegen dessen ungeklärter Zukunft. Goretzka ist seither Vizekapitän. Er soll jetzt Verantwortung übernehmen. Gegen Bremen am Sonnabend traf er zum 2:1-Sieg. Die Schalker Statik wirkt im Moment so fest wie lange nicht: Mit neun Punkten aus vier Partien ist der beste Saisonstart seit 2011 gelungen. Goretzka attestieren sie nach seinem Treffer gegen Werder, dass er endlich die Führungsrolle angenommen habe.
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Hrubesch muss darüber schmunzeln. Beide verbindet eine Trainer-Spieler-Beziehung, die über die Jahre ungewöhnlich eng geworden ist. Goretzka war Hrubeschs Kapitän in der U21-Nationalelf, auch bei Olympia 2016 führte er die deutsche Auswahl unter dem Trainer Hrubesch an, bis er sich verletzte. Noch heute telefonieren beide regelmäßig. „Leon wird immer Anführer sein, egal, ob er Kapitän ist“, sagt Hrubesch. Das liege an seiner Sozialkompetenz, der Fähigkeit, stets auch an sein Umfeld zu denken, und am nicht unerheblichen Umstand, ein prächtiger Fußballer zu sein.
„Leons große Stärke war immer der Kopf“, sagt Jens Todt dieser Zeitung. Der heutige Sportdirektor des HSV gab Goretzka als 17-Jährigem 2012 seinen ersten Profivertrag beim VfL Bochum. Fünf Minuten vom Bochumer Stadion entfernt ist Goretzka aufgewachsen. Er lebt noch heute dort bei seinen Eltern, und Todt, damals Sportvorstand des VfL, erinnert sich, wie Goretzka bei den Vertragsverhandlungen zusammen mit seinem Vater Konrad Weitsicht und Sinn fürs Umfeld bewies: „Er sagte zu uns: Es kann sein, dass ich irgendwann mal den VfL verlasse. Aber dann will ich, dass Bochum davon auch etwas hat.“ Goretzka ging ein Jahr später für etwa fünf Millionen Euro zu Schalke – an einem Weiterverkauf wäre der VfL größer beteiligt. Bei Schalke wurde er Nationalspieler unter Bundestrainer Joachim Löw und im Sommer beim Confed Cup mit drei Toren und einer Vorlage zu einem der großen Gewinner. „Es war früh zu erkennen, dass er etwas Besonderes hat. Aber er hat sich auch nie ablenken lassen, war immer total auf den Fußball fokussiert und schon mit 17 ein seriöser Spieler“, sagt Todt. Leon, der Profi. Hrubesch denkt ohnehin: „Sportlich ist Leon noch lange nicht am Limit.“
Schmerzgrenzen verschieben sich
Bei Bayern und anderen Topklubs in Europa glauben sie das auch. Und das hat Schalke nun offenbar animiert, die eigenen Schmerzgrenzen zu verschieben. Laut „Kicker“ sind die Königsblauen bereit, Goretzka in einem neuen Vertrag ein Gehalt von zehn Millionen Euro pro Jahr zuzusichern. Nie zuvor verdiente ein Spieler auf Schalke derart viel. Ob es reicht, Goretzka vom Bleiben zu überzeugen, wird sich zeigen. Vielleicht braucht es neben mehr Geld aber auch mehr Perspektive. Tedesco ist Goretzkas fünfter Trainer auf Schalke. Der Klub braucht ihn als Identifikationsfigur – besonders nach dem von Misstönen begleiteten Abgang Höwedes’. Goretzka aber braucht einen Klub, der mit ihm wächst.
Gegen die Bayern wird vieles von der Schalker Statik abhängen – von Goretzka, dem Verbindungsmann zwischen Offensive und Defensive. Er sagt: „Da muss man mit breiter Brust spielen.“ Und er wird versuchen, das vorzuleben. Als Anführer ohne Kapitänsbinde. Als ein Spieler, den man nicht auswechselt.