Gelsenkirchen. . Dr. Thorsten Rarreck, ehemaliger Arzt des FC Schalke, spricht im Interview über die Gründe für die vielen Verletzungen und Fußball als Kopfsache.
Fast 15 Jahre lang war Dr. Thorsten Rarreck Schalkes Vereinsarzt. In der Zeit hat der Orthopäde den Fußball im Wandel erlebt – und mit ihm eine stete Zunahme der Verletzungen. Im Interview mit RevierSport verrät der dreifache Vater, was Spieler und Vereine zur Vorbeugung von Bündelriss und Co. tun können und was es gerade für junge Profis bei all den Verlockungen schwer macht, hundertprozentig professionell zu sein.
Thorsten Rarreck, ob Bayern München, Schalke 04 oder Borussia Dortmund: Alle genannten Vereine hatten in jüngster Vergangenheit schwer mit Verletzungen zu kämpfen, sodass teilweise eine ganze Elf ausgefallen ist: Ist die Wahrnehmung, dass sich die Zahl der verletzungsbedingt ausfallenden Fußballer unheimlich gehäuft hat, richtig? Oder ist das nur deshalb ein Riesenthema unter Experten und Fans, weil es durch die Medien immer stärker in die Öffentlichkeit transportiert wird?
Thorsten Rarreck: Der Eindruck ist definitiv richtig. Studien der Fifa über Verletzungen in der Champions League belegen das. Es gibt eine eindeutige Zunahme der Verletzungen und auch der Länge der Ausfallzeit. Meine eigenen Aufzeichnungen aus den letzten 20 Jahren und Abgleiche mit Kollegen bestätigen das.
Insbesondere muskuläre und schwere Verletzungen wie Kreuzbandrisse fallen dabei auf.
Rarreck: Auch das ist so! Und was die Muskelverletzungen angeht, beobachten wir hier eine deutliche Zunahme der Schwere der Verletzungen. Früher waren Zerrungen oder Faserrisse an der Tagesordnung, heute sind es Bündel- oder sogar Sehnenrisse.
Woran liegt das?
Rarreck: Das hat sehr viele unterschiedliche Gründe. Zum einen: Inzwischen ist durch bildgebende Verfahren wie Kernspin die Diagnostik sehr viel besser geworden. Dadurch wird heute ein Bündelriss als solcher erkannt, der vor ein paar Jahren vielleicht noch unter dem Radar der Faserrisse lief. Zunächst müssen wir Sportverletzungen von Sportschäden unterscheiden. Bei letzteren handelt es sich um chronische Überlastungsreaktionen, die allerdings akut entgleisen können. Außerdem gibt es extrinsische, d.h. von außen einwirkende und intrinsische, vom Spieler selbst ausgehende Ursachen für Verletzungen und Schäden. Zuletzt gilt es, die Belastung und die individuelle Belastbarkeit zu differenzieren und zu analysieren.
Klären Sie uns bitte auf!
Rarreck: Verletzungen von außen, zum Beispiel durch Gegnereinwirkung, kann ja jeder Zuschauer im Stadion sehen. Um diese einzuschränken, wären Anpassungen im Regelwerk von Vorteil. Zum Beispiel würde ich Undinge wie den hohen Ellenbogen beim Kopfballduell, wodurch sich Nasen- oder Jochbeinbrüche gehäuft haben, strenger bestrafen und dafür ausnahmslos sofort Rot geben. Einfluss nehmen könnte man auch auf die Spielplangebung. Der Profi von heute absolviert durchschnittlich zehn Spiele mehr pro Saison. Seine Laufleistung hat pro Spiel um zwei bis drei Kilometer zugenommen, ebenso explosive Bewegungselemente mit entsprechender Verletzungsgefahr. Die Belastung spielt also eine Rolle, aber die können wir realistischerweise nicht ändern, weil zu viele Interessen – Fernsehen, Sponsoren, etc. – dem entgegenstehen.
Wo würden Sie also ansetzen?
Rarreck: Weil etwa 80 Prozent der Verletzungen andere, nämlich innere Ursachen haben, müssten wir im Fußball noch viel mehr Wert auf die drei Bereiche Ernährung inklusive evtl. gezielter Nahrungsergänzung, Trainingssteuerung und mentale Betreuung der Spieler legen. Der erste Schritt ist die Ernährung: Der Profi muss das für ihn richtige Verhältnis zwischen Makronährstoffen – also Eiweiße, Kohlenhydrate, Fette unter Berücksichtigung der Gesamtkalorienzahl – sowie Mikronährstoffen – also Vitamine, Mineralien und Spurenelemente – kennen und auch berücksichtigen. Vereine wie Schalke sind da auf einem guten Weg und geben den Spielern Ernährungspläne an die Hand und in der Kabine wird gleich von Sternekoch Björn Freitag hochwertiges Essen angeboten. Der zweite Schritt ist dann die richtige Trainingssteuerung.
Rarreck kritisiert "unkoordinierten Medizintourismus"
Wie kann die Trainingsarbeit verbessert werden, wenn der Stab schon fast so groß ist wie der Spielerkader?
Rarreck: Erstens muss die Diagnostik lückenlos sein, sodass über jeden Spieler eine umfangreiche Akte mit Daten zu seiner Vorgeschichte, seinen Leistungsparametern, zu Reha- und Trainingsmaßnahmen und seinem Ernährungsverhalten besteht. Was die Trainingssteuerung gerade nach Verletzungen angeht, ist dann die Frage: Wo hat der Spieler in den Bereichen Ausdauer, Kraft, Dehnbarkeit, Koordination, Schnelligkeit sein Optimum? Ist er schon bei 100 Prozent oder wie bringen wir ihn wieder dorthin? Das hat ja mit dem Fußball spielen direkt nichts zu tun, sondern ist immer eine Grundvoraussetzung für Hochleistungssport. Gerade dieser Bereich ist sehr aufwändig und genau da tun die meisten Vereine meiner Ansicht nach noch nicht genug. Schalke hat mit Ruwen Faller und Henrik Kuchno diesbezüglich exzellentes Fachpersonal. Aus meiner Sicht wären aber fünf, sechs spezialisierte Athletik- und Rehatrainer absolut sinnvoll, um die gewaltige Aufgabe der Prävention zu stemmen. Das ist letztendlich für die großen Klubs unter Berücksichtigung der sonstigen Personalkosten und des Einsparpotentials auch keine unangemessene finanzielle Belastung.
Es heißt immer, Fußball spielt sich in erster Linie im Kopf ab. Was halten Sie davon?
Rarreck: Als Arzt mit einem ganzheitlichen Ansatz befürworte ich diese Denkweise, aber auch das Mentale ist nur einer von drei wichtigen Bereichen in Sachen Verletzungen im Profifußball. Über die ersten beiden Bereiche haben wir gesprochen. Klar ist: Wer mit dem Druck, vor 60.000 Zuschauern im Stadion und Millionen vor dem Fernseher zu spielen, Probleme hat, verkrampft und verletzt sich schneller. Ein erfahrener Sportpsychologe kann den Spieler über Interviews und Screenings besser kennenlernen und ihm Lösungen bieten, mit Blockaden besser umgehen zu können. So werden leistungsfördernde und verletzungsmindernde Impulse verankert. Wirken alle drei genannten Bereiche – Ernährung, Trainingssteuerung und sportpsychologische Betreuung – optimal zusammen, haben wir eine größtmögliche Belastbarkeit der Spieler und daher weniger Verletzungen.
Was halten Sie von einem Zehn-Stunden Tag auf dem Klubgelände, wie ihn Jupp Heynckes schon 2003 auf Schalke einführte und mit dem aktuell Joe Zinnbauer in Hamburg den HSV vor dem Abstieg bewahren will?
Rarreck: Sehr viel! Acht Stunden würden auch reichen, das ist ja nichts anderes als ein normaler Arbeitstag. In dieser Zeit ist es möglich, den Spielern all die genannten Maßnahmen anzubieten und sie so auf ein Top-Level zu heben. Angesichts der Bezahlung im heutigen Fußball ist das sicher nicht zu viel verlangt. Die Alternative wäre, einen Kader von mindestens 30 vergleichbaren Spielern zu haben. Dann könnte der Trainer mehr rotieren, um Verletzungen durch die vermeintlich zu hohe Belastung zu minimieren.
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Rarreck: Das ist, was die Trainingsintensität angeht, berechtigt. Natürlich trainieren die Einzelsportler im Vergleich zum Fußballer viel mehr und zudem steht ihr Verdienst in den meisten Fällen diametral dem der Spieler gegenüber. Aber Fußball ist eine Kontaktsportart mit zusätzlich vielen Zerrungsmomenten auf Gelenke, Muskeln und Sehnen. Nach einem intensiven Training oder Spiel muss der Organismus zahlreiche Kleinstverletzungen verarbeiten und reparieren. Das benötigt einige Tage und kann nur begrenzt beschleunigt werden. Oftmals erfolgt in solchen Situationen der Griff zum Schmerzmittel, was die Schmerzen tatsächlich reduziert, oftmals aber leider den Heilungsprozess verzögert. Das ist bei Leichtathleten und Schwimmern beispielsweise trotz großer Trainingsumfänge nicht so.
Die Profis von heute werden immer jünger und verdienen immer früher richtig viel Geld. Ein 18-Jähriger hat ja auch mal was anderes im Kopf, als streng nach Ernährungsplan zu leben oder mit dem Fitnesstrainer Extraschichten zu fahren!
Rarreck: Das kann ich verstehen, aber letztlich wollen alle die große Karriere machen. Ich gehe sogar einen Schritt weiter und fände es wichtig, das Freizeit- und Schlafverhalten der Spieler zu analysieren. Jupp Heynckes sagte mir zum Beispiel einmal, er sei nach Spielen früher mit seiner Familie oder Freunden im Wald spazieren gegangen, um runter zu kommen! Er meinte die heutigen jungen Profis aber stünden ständig unter Strom, gingen nach dem Training mit der Freundin shoppen oder mit den Kumpels ins Café. Da kommen viele Reize zusammen, die dazu führen, dass der Spieler nach einer Belastung wie dem Mannschaftstraining nicht richtig regeneriert.
Die Weltmeister Benedikt Höwedes und Julian Draxler haben wegen der vielen Verletzten auf Schalke vor der Saison genau das moniert und von allen Spielern ein absolut professionelles Verhalten gefordert.
Rarreck: Das ist der richtige Ansatz, die meisten heutigen Profis wissen das ja auch und verhalten sich dementsprechend. Trotzdem sind die Verlockungen natürlich groß, die Verantwortlichen müssen da genau hinschauen und gegebenenfalls regulierend eingreifen.
Draxler selbst fällt schon wieder länger wegen einer sehr schweren Muskelverletzung aus. Ist er anfällig geworden?
Rarreck: Das würde ich so nie sagen, denn das wäre ja eine selbsterfüllende Prophezeiung. Jule habe ich zum Beispiel so nicht in der Wahrnehmung, auch wenn er in den letzten Monaten schwerere Verletzungen hintereinander erlitten hat. Es kommt darauf an, die möglichen Gründe für diese Verletzungen von allen Seiten zu beleuchten, die richtigen Maßnahmen zu treffen und ihn auf keinen Fall mit einem noch so kleinen Verletzungsrückstand auflaufen zu lassen. Da wäre die Gefahr dann wirklich groß, dass erneut etwas passiert. Ich bin mir aber sicher, dass man das auf Schalke dementsprechend angehen wird.
Schalke hat einen riesigen Trainer- und Betreuerstab und eines der modernsten Rehacenter direkt auf dem Vereinsgelände. Warum dürfen verletzte Spieler trotzdem zu den Ärzten oder Physios Ihres Vertrauens fliegen?
Rarreck: Das kann ich auch nicht gutheißen. Wenn die deutschen Nationalspieler nach München fliegen und den Rat meines geschätzten Kollegen Müller-Wohlfahrt einholen, kann ich das nur uneingeschränkt begrüßen. Er ist der ‚graue Wolf‘ unter den Sportmedizinern in Deutschland und durch seine Tätigkeit für den DFB und Bayern München seit Jahrzehnten die anerkannte Kapazität auf unserem Gebiet. Wenn allerdings ein unkoordinierter Medizintourismus in aller Herren Länder stafffindet, ohne dass eine Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit gegeben ist, ist das problematisch. Schalke hat mit dem Medicos eine Top-Einrichtung zur Verfügung, mit der ich ausschließlich beste Erfahrung gemacht habe.