Essen. Rot-Weiss Essen und Preußen Münster wollen in die 3. Liga. Die Entscheidung fällt am letzten Spieltag. Die Chronik eines verrückten Titelduells.
Das sportliche Schicksal für Jahrzehnte entscheidet sich manchmal in einer Szene. Dieser eine Konter, den der VfB Lübeck am 31. Mai 2008 im Stadion an der Hafenstraße setzt, löst ein Trauma aus, das Rot-Weiss Essen lange beschäftigen wird. Steve Müller schließt den Angriff mit einem satten Schuss ab. Es ist der 1:0-Siegtreffer. Essen verpasst die Qualifikation zur neuen 3. Liga und muss in der Regionalliga bleiben, die zur ersten Amateurliga umstrukturiert wird. Somit verlässt der Deutsche Meister von 1955 den Profifußball. Bis heute kam er nicht wieder.
An diesem Samstag, 14 Jahre später, kann RWE sein Trauma im Heimspiel gegen Rot Weiss Ahlen bewältigen (14 Uhr). Die Essener sind Tabellenführer. Holen sie den Titel, steigen sie in die 3. Liga, in den Profifußball auf. Es wäre das Ende einer Odyssee.
Rot-Weiss Essen und Preußen Münster: Zwei Traditionsklubs wollen hoch
Seit Jahren tingelt der Verein über bessere Dorfsportplätze in Westdeutschland. Wegberg-Beeck, Homberg, Rhynern. Harte Zeiten für den leidgeprüften Anhang, der alles ertragen hat und stets von besseren Zeiten träumte. Tausende Fans fahren Woche für Woche zu den Spielen des Klubs, der zu groß ist für den Amateurfußball. RWE hat finanzielle Mittel wie manch ein Zweitligist. Einen Kader, in dem Akteure stehen, die schon in der Bundesliga und in der englischen Premier League gespielt haben. Die Fans werden am Samstag bangen und hoffen, längst ist das Stadion ausverkauft, Karten werden auf dem Schwarzmarkt für mehrere Hundert Euro gehandelt.
- Rot-Weiss Essen: „Die Tür ist auf“.
- RWE: Was ehemalige Spieler dem Klub wünschen.
- RWE-Heimspiel gegen Ahlen ist ausverkauft.
Diesen Druck, der durch die Erwartungen der ganzen Stadt entsteht, muss die Mannschaft am Samstag aushalten. „Man muss eine gewisse Ruhe haben“, sagt Felix Herzenbruch. Der 29-jährige Verteidiger schiebt nach: „Du musst einfach deine Leistung abrufen, nicht überdrehen und alles andere ausblenden – zum Beispiel, dass in jeder Kneipe in Essen gefühlt 500 Leute sitzen werden.“
Was der Verein für eine Wucht entfalten kann, wurde im vergangenen Jahr deutlich, als er bis ins Viertelfinale im DFB-Pokal kam. Für einen Regionalligisten ist das eine Sensation. Bei RWE berichteten sogar internationale Medien über den Pokal-Lauf.
Noch immer reisen Tausende Fans zu den RWE-Spielen – trotz aller Niederschläge
Die Rückkehr in den Profifußball hat seit 2008 nie geklappt. Oft ist der Klub gescheitert. Am eigenen Anspruch, an der Arroganz, am Pech, an der Konkurrenz – und genau das könnte auch in diesem Jahr der Grund sein, weshalb das Trauma bestehen bleiben könnte.
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RWE geht mit 84 Punkten in das Saisonfinale. Genauso viele hat der Tabellenzweite. Das ist auch ein Traditionsverein, der zu groß für diese Regionalliga ist: Preußen Münster. Die Adlerträger haben denselben Anspruch, wollen mindestens in der 3. Liga spielen.
Preußen Münster war Vize-Meister und Bundesliga-Gründungsmitglied
Münsters gute Zeiten liegen ebenfalls weit zurück. Der SCP wurde 1951 Deutscher Vizemeister, 1963 war er Gründungsmitglied der Bundesliga. Damals strömten die Massen ins Preußenstadion, der Andrang ist ungebrochen: Am Samstag spielt der Zweite parallel zu RWE gegen die U21 des 1. FC Köln. Tickets gibt es keine mehr. Im Finale hat Essen einen Vorteil: die bessere Tordifferenz (+2).
Dass der Aufstieg ausgerechnet in einem Herzschlagfinale zwischen diesen Klubs, die seit Jahrzehnten rivalisieren, entschieden wird, ist das letzte Kapitel in dem Drama, an dem Rot-Weiss und die Preußen in dieser Saison schreiben.
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Der erste Akt ist das Hinspiel. Die Münsteraner von Trainer Sascha Hildmann erspielten sich eine 2:0-Pausenführung. Doch RWE drehte nach der Halbzeit auf, gewann mit 3:2 – anschließend wurde nur darüber gesprochen, was nach dem Abpfiff passierte. RWE-Anhänger durchbrachen einen Zaun im Gästeblock und randalierten in Münsters Stadion.
RWE und Preußen Münster: Böllereklat überschattet das Rückspiel
Dann folgte Akt zwei, der Fall Dennis Grote. Im Winter war Rot-Weiss Erster, als öffentlich wurde, dass Kapitän Grote um Freigabe für einen Wechsel nach Münster gebeten hatte. RWE ließ ihn nicht ziehen. Der Kapitän wurde suspendiert und wenig später freigestellt. Er spielt jetzt in Innsbruck.
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Dritter Akt: das Rückspiel. Unmittelbar nach dem Münsteraner 1:1-Ausgleich explodierte ein Böller vor der Essener Westtribüne. SCP-Spieler, die sich vor der Kurve warmgemacht hatten, hielten sich die Ohren zu. Das Spiel wurde abgebrochen. Preußen bekam im April die drei Punkte vom Verbandsgericht zugesprochen, und in Essen brach Unruhe aus.
Akt vier: das Schwächeln der Essener. Kurz nach dem Böller-Eklat stoppte ein Corona-Ausbruch den Aufstiegsfavoriten. RWE erlaubte sich im Frühling zahlreiche Patzer und trennte sich in der vergangenen Woche gar von Trainer Christian Neidhart. Manager Jörn Nowak und U19-Coach Vincent Wagner sprangen bis Saisonende ein. Die Fans, nicht nur die von RWE, unkten: Typisch, auch dieses Jahr verspielt Rot-Weiss den Aufstieg.
RWE-Dauerbrenner Herzenbruch: „Das muss jetzt einfach klappen“
Immerhin punktete Münster beständig, war plötzlich Tabellenführer. Was im Ruhrgebiet zu fehlen schien, wurde in Westfalen vorgelebt: Spieler wie der Kapitän und gebürtige Sauerländer Julian Schauerte, Verantwortliche sowie die Fans waren und sind eine Einheit. Bis, ja bis die Preußen am vergangenen Wochenende selbst stolperten. 0:0 in Wiedenbrück. RWE siegte 3:0 gegen Rödinghausen, war wieder Erster – eine Woche vor dem letzten Spieltag.
Hier gibt es alle Neuigkeiten zu Rot-Weiss Essen.
Nun also Akt fünf, das Wochenende mit zwei Endspielen. Felix Herzenbruch weiß um die Bedeutung des Spiels gegen Ahlen, um den Legendenstatus, den das RWE-Team erringen könnte, wenn in diesem Jahr der Aufstieg gelingt. Um das Trauma, das endlich besiegt wäre. „Ich möchte zu der Mannschaft gehören, die es geschafft hat, mit RWE in den Profifußball zurückzukehren“, betont er. „Die Tür ist auf – und wir wollen da durchgehen. Das muss jetzt einfach klappen.“