Mönchengladbach. Wolfgang Kleff hat schillernde Zeiten bei Gladbach erlebt. Vor dem Europa-League-Spiel gegen Wolfsberg spricht er über Erfolge und Starkult.
Nach einem Spaziergang zum benachbarten Park nimmt Wolfgang Kleff in seinem Stammlokal Platz. Der Wirt bringt einen Briefumschlag zum Tisch. Kleff öffnet ihn und nimmt Autogrammkarten mit alten Fotos von ihm heraus. Einige Leute wissen, dass die Torwart-Ikone von Borussia Mönchengladbach in der kleinen Gaststätte am Bahnhof in Rheydt gerne Fußball-Spiele schaut. Sie lassen ihm deshalb hier regelmäßig Post zukommen. Der 72-Jährige unterschreibt mit einem Filzstift geduldig die Karten. Später wird er hinüber zum Briefkasten gehen, um sie an die Absender zurückzuschicken. Vorher spricht Kleff über seine Zeit bei der Borussia, die heute mit dem Europa-League-Heimspiel gegen den Wolfsberger AC (21 Uhr/Nitro und DAZN) erstmals nach drei Jahren wieder in einen internationalen Wettbewerb startet.
Herr Kleff, wenn Gladbach im Europapokal spielt, würden Sie dann gerne die Zeit zurückdrehen und auch noch einmal im Tor stehen?
Wolfgang Kleff: Klar würde man gerne mal wieder spielen. Aber man muss immer der Realität ins Auge sehen (lacht): Es geht nicht. Heute wird wesentlich mehr Geld verdient. Wenn ich heute spielen würde, wäre das zwar angenehm, aber dann hätte ich meine beiden Kinder nicht. Die sind mir wichtiger. Ich bin sehr glücklich aus der Nummer rausgekommen.
Kleff: In Everton das Spiel seines Lebens
An welches internationale Duell erinnern Sie sich am liebsten zurück?
Was mich persönlich am meisten vorangebracht hat, war das ominöse Spiel in Everton. (Achtelfinal-Rückspiel im Europapokal der Landesmeister am 4. November 1970, 4:5 n.E., 1:1; Anm. d. Red.) Es war das größte Spiel, das ich in meiner Laufbahn hingelegt habe. Wir sind zwar ausgeschieden und es war nicht der Erfolg der Mannschaft, den ich mir gewünscht hätte, aber ein persönlicher Erfolg, weil ich grandios gehalten habe. Ich hatte das Gefühl, die schießen mich immer an. Ich war im Rausch.
Gegen Everton gab es aber auch ein Hinspiel, das 1:1 endete …
Zig Toilettenrollen flogen in meinen Sechzehner. Das hat mich irritiert und wahnsinnig gemacht. Wenn mal ein Ball gegen eine Rolle fliegt, kann er abgefälscht werden und die Richtung ändern. Darum wollte ich alles um mich herum entsorgen und zur Seite schmeißen. Evertons Howard Kendall hatte das gesehen. Er war etwa an der Mittellinie. Ich habe noch aufgeräumt und er hat einfach mal aufs Tor geschossen. Und siehe da: Der war drin. Das war natürlich ein Fauxpas. Ich würde es zwar immer wieder so machen, aber mit mehr Aufmerksamkeit.
"Unser Computer war Hennes Weisweiler"
Wo lag der Schlüssel zu den Gladbacher Erfolgen in der 70er Jahren?
Laufwege funktionierten bei uns automatisch. Unser Computer war Hennes Weisweiler. Der hat uns das eingebläut, mit uns trainiert. Er hatte eine Philosophie, die hervorragend war. Seine Philosophie war Offensive. Dass das nicht immer funktioniert, hat er dann auch gemerkt und die Abwehr verstärkt. Wir hatten sehr viele Leute in der Mannschaft, die Fußballverstand hatten. Wir haben sehr vieles instinktiv richtig gemacht. Das nötige Rüstzeug als Techniker, als Fußballer, hatten wir auch mitgebracht. Und wir haben uns gut verstanden. Es hat Spaß gemacht. Wir waren nicht – wie heute – gedrillte Maschinen. Wir haben heute zu wenige Leute, die alleine entscheiden. Mir ist das heute zu statisch alles.
Wie war ihr Verhältnis zu Hennes Weisweiler?
Das war gut. Er war einer, der immer viel gesehen hat. Er hat aber nicht alles angesprochen. Denn wir hatten eine Mannschaft und Spieler darin, bei denen der Trainer gar nicht viel eingreifen musste, weil sie das untereinander geregelt haben. Da waren ein paar ehrgeizige, dann die jungen, die etwas oberflächlicher waren, die man erstmal einnorden und mit auf das Schiff holen musste. Weisweiler konnte nur eines nicht haben: wenn du überheblich warst. Dann konnte er ausrasten. Wenn man sich versteckte und Fehler machte, wurde er sauer. Aber wenn er gesehen hat, dass man sich bemüht, dass man will, war das okay. Wenn ich etwas mache und bin aktiv, dass ich dann mal einen Fehler mache, ist doch ganz logisch. Wenn ich 100 Mal am Ball bin, mache ich eher einen Fehler, als wenn ich zweimal am Ball bin.
"Wir haben uns sehr viele Freiheiten genommen"
Die 70er galten als wilde Zeit. Wie haben Sie ihr Zeit außerhalb des Platzes verbracht?
Oh, wild! (lacht) Wie man als Fußballprofi lebt, hat man mir damals nicht gesagt. Das einzige, was ich wusste: Ich muss mich konzentrieren und gut sein. Je näher der Spieltag kam, desto ruhiger wurde man. Aber wir haben es uns auch nicht nehmen lassen, abends mal um die Häuser zu ziehen. Wir haben uns sehr viele Freiheiten genommen. Auch nach Europacup-Spielen haben wir den Abend ausklingen lassen. Man konnte sowieso nicht schlafen. Oft haben wir ja auch gewonnen. Es hat also Spaß gemacht.
Ihren ersten Titel im Uefa-Pokal feierten Sie 1975 bei Twente Enschede.
Nach dem 0:0 in Düsseldorf aus dem Hinspiel kamen wir zum Rückspiel in das altehrwürdige Stadion. Da sahen wir links einen Raum, der schon für Feierlichkeiten gedeckt war: Essen, Blumen, Kerzen auf dem Tisch. Es sollte wohl eine Siegesfeier werden. Dem war aber nicht so. Denn wir haben 5:1 gewonnen. Wir sind mit dem Bus zurückgefahren und haben gefeiert. Ohne Kerzen. Ohne Abendessen. Sondern einfach mit ein paar Bierchen und Fröhlichkeit an allen Ecken.
Wie sehen Sie die Fußballprofis von heute?
Wenn der Einzelne es zu wichtig nimmt, dass er hofiert wird, muss man sich vor Augen führen, dass es in drei Jahren vorbei sein kann. Und dann ist keiner mehr da, der sagt: Oh, das ist der große Star. Dann sagt man höchstens: Das war der große Star. Man muss damit umgehen können. Es ist alles eine Charakterfrage. Der eine kann besser damit umgehen, der andere bläht sich auf. Hochmut kommt vor dem Fall. Es tut gut, wenn man im Rampenlicht steht und gut ist. Aber man soll es nicht unterschätzen. Was wir damals im Jahr verdient haben, bekommen Profis heute in einer Woche. Aber wir haben mehr gehabt als der Normalbürger. Ich akzeptiere, dass sie heute so viel Geld verdienen.
Ist das gerechtfertigt?
Es ist insofern gerechtfertigt, weil überall das gezahlt wird und sie es keinem klauen. Das Geld ist da. Angebot und Nachfrage regeln das Geschäft. Wenn die Nachfrage mal nachlässt, geht das vielleicht den Bach runter.
Kleff: Ich nur noch ein guter Zuschauer
Wie fühlt es sich für Sie eigentlich an, den Status einer Vereinsikone innezuhaben?
Es gibt keinen Euro mehr dafür (lacht). Die Leute verbinden den Namen mit der guten alten Zeit. Ich bin keine Ikone, sondern wurde von den Fans dazu gemacht. Wenn sie das meinen, ist das okay. Ich finde es schön, dass sie sich an mich erinnern. Dass sie sagen: Der war da, der war gut. Denn sie haben ja Recht (lacht): Ich war auch gut. Aber jetzt bin ich nur noch ein guter Zuschauer, teilweise ein kritischer. Aber nie ungerecht.
Wie sehen Sie Gladbach heute? Welchen Eindruck haben Sie von Trainer Marco Rose?
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Ich habe ihn nicht einmal trainieren sehen, keine Ansprachen gehört. Er macht einen sympathischen Eindruck. Das ist das Einzige, was ich sagen kann und für mich auch vorne an steht. Alles andere kann ich nicht beurteilen. Ich kann beurteilen, was ich unten auf dem Platz sehe, wenn ich im Stadion bin.
Ein Torwart, den Sie sicherlich beurteilen können, ist Yann Sommer.
Ja, er ist ein guter Fußballer. Er spielt mit. Wenn du einen Fußballer als Torwart hast, liest er ein Spiel. Das heißt, er sieht vielleicht schon die Spielzüge, was passieren kann. Das war auch meine Stärke.
"Ich erwarte, dass die Mannschaft um Europacup-Plätze mitspielt"
Wie sehen Sie die Entwicklung in Gladbach?
Wir werden nicht Deutscher Meister werden. Und ich hoffe, dass wir auch nicht absteigen werden. Irgendwo dazwischen bewegt sich das. Eine Entwicklung verändert sich ja auch durch Verkäufe und Einkäufe. Ich darf nicht einkaufen und für den Verein im Verhältnis Unsummen ausgeben.
Welchen Anspruch sollte Gladbach haben?
Ich erwarte, dass die Mannschaft um Europacup-Plätze mitspielt. Sie sollte sich bemühen, diese Plätze zu erreichen. Der Ist-Zustand ist Europa. Damit sind die Leute zufrieden. Gladbach freut sich auf die Europa League. Davon profitieren alle: die Borussia, Kneipen, Hotels, Taxifahrer, Restaurants. Es hängt sehr viel daran. Darüber muss man sich auch im Klaren sein.
Kann eine Europapokal-Begeisterung die Mannschaft vorantreiben?
Ja, das sollte sie. Und bitte keine Ausreden! Wenn ich das schon höre: Europacup-Belastung. Ich denke, man hat schon davon gesprochen, obwohl kein Spiel gespielt wurde. Da werde ich wütend. Sie sollen froh sein, denn so trainieren sie weniger und haben spannende Spiele. Man sollte sich auch ein Beispiel an anderen Sportarten nehmen: Bei einer Handball-WM spielen sie alle zwei Tage unter Höchstbelastung – rauf und runter. Oder auch Eishockey – da meckert keiner. Sie sollen dankbar sein, dass sie Fußball spielen, es annehmen und haben eins, was etwas Grundsätzliches ist und mit Gladbach nichts zu tun hat: Sie sind eine der glücklichsten Bevölkerungsgruppen, die es gibt, weil sie ihr Hobby zum Beruf gemacht haben. Wer kann das von sich sagen? Sie verdienen zudem ein Schweinegeld. Ist doch wunderbar. Da stöhne ich nicht, da freue ich mich.