Danzig. . Bundestrainer Joachim Löw hat sich eine Mannschaft nach seinen Vorlieben geformt. Kurz vor dem ersten Gruppenspiel beruhigt sich auch die Lage im deutsche Team. Alle Zeichen stehen nun auf Angriff - wenn auch bedächtig.
Am Donnerstagmittag behütete Joachim Löw im Mannschaftshotel Dwor Oliwski mit beiden Händen ein hellblaues Espressotässchen. Möglich, dass der Bundestrainer besorgt war, weil einem so kleinen Tässchen doch ganz schnell etwas passieren kann. Ansonsten aber wirkte er wie immer, so, wie sich seine Mimik, seine Gestik über die vergangenen acht Jahre hinweg im öffentlichen Gedächtnis eingeprägt hat. Ruhig. Beruhigt. In sich ruhend. Dabei hatte beim Vormittagstraining in Danzig Jerome Boateng den Kollegen Per Mertesacker mit dem Ellenbogen am Kopf getroffen. Und der Arsenal-Mann war gar nicht weit entfernt vom behüteten Espressotässchen Gast der medizinischen Abteilung.
Ausgerechnet Mertesacker. Wieder Boateng. Und das auch noch so kurz vor dem freitäglichen Abflug zur ersten Vorrundenpartie der EM, so kurz vor diesem mit Bedeutung prall aufgepumpten samstäglichen Spiel der deutschen Auswahl gegen Portugal im ukrainischen Lwiw. Im Fall Mertesacker konnte Löw bald Entwarnung geben. Sein neben Holger Badstuber zweiter Innenverteidiger des Vertrauens darf auflaufen. Der Fall Boateng ist komplizierter. Vom für die rechte Defensivflanke vorgesehenen Bayern sind Fotos in der Bild-Zeitung erschienen, die ihn in der Nacht vor der Reise nach Polen mit einem Silikon-Model namens Gina-Lisa Lohfink zeigen. Nicht mehr. Aber es war spät. Und es halten sich Gerüchte, die auf gemeinsamen Zeitvertreib hinter verschlossenen Türen hindeuten.
Lars Bender als Konkurrent
Wie der beruhigte Herr Löw tickt, lässt sich aus dem Fall Boateng herleiten. In zwei Wertungskategorien werden von ihm Spieler beurteilt. Sportlich sollten sie höchsten Leistungsansprüchen genügen, internationale Erfahrungen gesammelt und die Fußballphilosophie des Bundestrainers aufgesogen haben. Menschlich sollten sie sich generell ihrer Vorbildrolle bewusst sein, dem internen Verhaltenskodex Folge leisten und das Wohl der Gruppe stets über das eigene Wohl stellen. Für Boateng könnte es also Folgen haben, dass er an seinem freien Tag den Knigge vergessen hatte. „Selbstverständlich hat mir nicht gefallen, was da passiert ist“, erklärte der Bundestrainer streng und lobte anschließend ausführlich Lars Bender, den er als Konkurrenten für den 23-Jährigen ausgemacht hat.
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Sollte Boateng den Rasen nicht betreten dürfen, wäre das aber dennoch überraschend. So beruhigt der Charakter Löw erscheint: Würde dieser Bundestrainer den Fehler seines Schützlings für unverzeihlich halten, hätte Boateng nach Last-Minute-Angeboten für den Sommerurlaub suchen müssen. Das nämlich ist Löws Geschichte, seine konsequent durchkomponierte Geschichte, die bei der EM in Polen und der Ukraine auf den Höhepunkt zugeschrieben werden soll. Auf den ersten Titel. Bei der WM 2006 war der heute 52-Jährige noch der Zuarbeiter von Bundestrainer Jürgen Klinsmann und doch maßgeblich an der Degradierung des Torhütertitanen Oliver Kahn beteiligt. Platz drei. Nach seiner Amtsübernahme spürte er bei der EM 2008 Dissonanzen in der Mannschaft, die unter dem Strich die eilige Verabschiedung des Leitwolfes Thorsten Frings und die quälend langsame von Michael Ballack bedingten. Platz zwei. Bei der WM 2010 hatte Löw dann im Kern schon seine Mannschaft beisammen, seine Spieler, die Spieler, die tatsächlich von ihm geformt waren. Platz drei.
Voraussetzungen für einen Triumph geschaffen
Trotz des Sünden-Falles Boateng: Bei der EM 2012 tritt nun eine mit Löw und an Löw gewachsene Mannschaft an, eine Mannschaft, die nach dreimaligem knappen Scheitern als groß empfunden und der deshalb Größe zugetraut wird. Egal, dass vor dem ersten Auftritt hinter der Einsatzfähigkeit von Bastian Schweinsteiger, von Miroslav Klose Fragezeichen prangen. Der Kern scheint jetzt von reichlich Fruchtfleisch umhüllt. Mario Gomez, Marco Reus, sie könnten Klose im Sturm ersetzen, Toni Kroos den emotionalen Leader Schweinsteiger auf der Sechserposition. Und noch immer würde die Fußballnation von ihrem Glauben nicht abschwören. Von dem Glauben, dass Deutschland endlich wieder satisfaktionsfähig ist. Von dem Glauben daran, dass Löw alle Altlasten beseitigt, alle Probleme aus dem Weg geräumt und die Voraussetzung für einen Triumph geschaffen hat.
Das aber ist auch das Kreuz, das der Bundestrainer schultert. Er selbst weiß: Die Konzentration muss Portugal, muss Cristiano Ronaldo und Kameraden gelten. Er selbst weiß: Und dann geht weiter, immer weiter, weiter. Zwischenzeitlich allerdings wird von Löw Vollendung erwartet.