Kiew. Eine Vielzahl von Torhütern hat sich bei der WM blamiert. In Südafrika kam kaum eine Nation ohne Torwartfehler durchs Turnier. Das soll bei der Endrunde in Polen und der Ukraine wieder anders werden. Auch wenn mehr Druck auf den Wachposten zwischen den Pfosten lastet.

Wenn in Kiew die Frühlingssonne scheint, wirft sie dieser Tage ein feines Licht auf die überdimensionalen Plakate, die an den riesigen Stahlpfeilern der Hängekonstruktion des Olympiastadions angebracht sind. Ein schwedischer, englischer und französischer Fußballfan lächeln herunter und animieren die Touristen zu Erinnerungsfotos vor der Spielstätte, in der am 1. Juli das EM-Finale steigt. Neben der Ukraine spielen in der Gruppenphase eben Schweden, England und Frankreich hier vor – zum Endspiel kommt indes nur, wer neben lächelnden Fans auch einen verlässlichen Schlussmann mitführt.

Bei der WM in Südafrika kam ja kaum eine Nation ohne Torwartfehler durchs Turnier. Robert Green, ein Engländer, wer sonst, leistete sich den peinlichsten Patzer, afrikanische, südamerikanische und asiatische Ballfänger flogen reihenweise ins Leere. Und selbst Manuel Neuer (26) flatterte einmal gegen England – folgenlos. „Es war keine WM der Torhüter. Die unterschiedliche Höhenlage, die unerträgliche Kälte, der ungewohnte Ball haben die Fehler begünstigt“, analysierte danach der Torwart-Weltenbummler Lutz Pfannenstiel auf dem Internationalen Torwartkongress in Zürich, als die Fehlgriffe in ihre Einzelteile zerlegt wurden.

Spaniens Casillas verzichtet auf Effekthascherei

Es ist gewiss kein Zufall gewesen, dass im WM-Finale 2010 mit Spanien und den Niederlande Teams standen, die mit Iker Casillas (31) und Maarten Stekelenburg (29) zwei der konstantesten Keeper entsandten. Der viermalige Welttorhüter Casillas, seit zwölf Jahren der spanische Wachposten zwischen den Pfosten, verkörpert eine besondere Klasse, weil der Tormann von Real Madrid auf fast jede Effekthascherei verzichtet. „Casillas ist der beste Torhüter der Welt“, hat sich sein Klubkollege Mesut Özil festgelegt.

Einen Weltruf bringt auch Petr Cech (30) ein, denn ohne die Aura des behelmten Hünen hätte Chelsea gewiss nicht die Champions League gewonnen. Erstklassige Abschläge, erstaunliche Reflexe und ergreifende Präsenz kennzeichnen den Tschechen. Der Torhüter gewinnt bei der EM noch mehr an Bedeutung, weil die Partien noch härter umkämpft sind als bei einer WM. Seit 1996 entschied ab dem Viertelfinale allein neunmal ein Elfmeterschießen. Der aus den 70er Jahren stammende Spruch der stilprägenden Ikone Sepp Maier, in einem engen Match würde der Torhüter 50 Prozent des Erfolgs ausmachen, besitzt bis heute Gültigkeit – oder würde Oliver Bierhoff stets nach einem „Golden Goal“ aus dem EM-Finale 1996 befragt, wenn nicht ein gewisser Petr Kouba von der Sonne, dem Flutlicht oder sonstwem irritiert worden wäre?

Der Torwart als „Alleskönner mit Händen und Füßen“

„Das Torwartspiel hat sich in den Jahrzehnten am meisten verändert. Es die komplexeste Aufgabe überhaupt geworden“, sagt Bundestorwarttrainer Andreas Köpke, „heutzutage muss ein Torwart ein Alleskönner mit Händen und Füßen sein.“ In seinem Anforderungskatalog werden die Elementartugenden beim Fliegen, Fausten und Fangen vorausgesetzt, dann geht es dem Europameister von 1996, selbst noch der Prototyp des „Linientorwarts“ darum, „Rückpässe zu verarbeiten, im Strafraum mitzuspielen, das Spiel zu lesen, die langen und schnellen Abwürfe sowie die seitlichen Abschläge zu beherrschen.“ Ganz schön viel auf einmal. Weshalb viele Nationen schon froh wären, eine Nummer eins von internationalem Format aufzubieten.

Eklatant das Dilemma bei der Ukraine, wo gleich drei vorgesehene Torhüter passen mussten – Andrej Pjatow (27) gilt nicht als Rückhalt. Und Dänemark plagt nach der Verletzung von Stammkeeper Thomas Sörensen ein Problem. Das Zeug zum Überflieger wird – natürlich neben Neuer - zum einen dem wagemutigen Polen Wojziech Szczesny (22) zugeschrieben, der als Ausnahmetalent beim FC Arsenal im Stahlbad der Premier League eine ausgezeichnete Figur abgibt. Zum anderen wartet auch noch der veranlagte Franzose Hugo Lloris (25) auf seinen internationalen Durchbruch. Anerkannte Tormänner wie der der Ire Shay Given (36), der Schwede Andreas Isaksson (30), der Italiener Gianluigi Buffon (34) – sofern vom Wettskandal unbeeindruckt – und sogar der Engländer Joe Hart (25) – immerhin Meister mit Manchester City - sollten ihre Leistung bringen. Gerade der englische Nationaltorwart dürfte nach einem fehlerlosen Auftritt so lächeln wie die Fans auf dem Banner vor dem Kiewer Olympiastadion.