Hamburg. Das HSV-Idol spricht über seine EM-Favoriten, die Leistung der deutschen Mannschaft und Erinnerungen an Achtelfinalgegner England.
Kurzstrecken bewältigt er ohne Stock, zu etwas längeren Gängen nimmt er ihn in die Hand – sicher ist sicher. Uwe Seeler ist nach seiner großen Hüftoperation schon wieder recht gut unterwegs, er trainiert dafür auch emsig. „Für einen Einsatz in der Zweitligamannschaft wird es aber wohl trotz allem nicht mehr reichen, da muss ich mich doch dem Alter beugen“, sagt das Mittelstürmer-Idol des HSV scherzend.
Fußball spielt sich für ihn in diesen Wochen im Fernsehen ab. Unisono sagen er und Ehefrau Ilka: „Wir haben bislang viel von der Fußball-EM gesehen.“ Natürlich auch die drei deutschen Auftritte. „Uns Uwe“ befindet: „Wir haben zuletzt gegen Ungarn viel, viel Glück gehabt, unheimlich viel Glück sogar. Das Weiterkommen hing am seidenen Faden. Und wenn wir nun die Achtelfinalhürde England nehmen wollen, dann werden wir uns gewaltig steigern müssen. Ganz gewaltig. Aber das wissen ja alle.“
Uwe Seeler sieht Chance im EM-Achtelfinale gegen England
Vor Beginn des Turniers war der 84-Jährige sicher, dass Deutschland mindestens ins Achtelfinale kommen wird. Als er seiner Ilka unterstellt, sie hätte wohl nicht so recht daran geglaubt, entgegnet sie gespielt entrüstet: „Was ist los? Ich habe gesagt, dass wir Europameister werden, egal gegen wen wir im Endspiel ranmüssen!“ Uwes Antwort sorgt für Gelächter: „Ich bin ja Weltmeister. Und zwar im Kaffeekochen.“
In der Tat ist der Ehrenspielführer in diesem Fach weltmeisterlich. Jeder Handgriff sitzt, alles geht blitzschnell – und der Kaffee schmeckt richtig gut. Er trinkt aus Überzeugung schwarz und sagt schmunzelnd: „Ich will ja noch schöner werden.“
Für das Spiel am Dienstag (18 Uhr/ARD) sieht Uwe Seeler aber keineswegs schwarz: „England hat mich bei dieser EM noch nicht wirklich überzeugt. Zwei Tore, sieben Punkte – das ist ein kleines Kunststück. Zweimal 1:0 gewonnen und gegen Schottland 0:0 gespielt, das ist doch nicht das Gelbe vom Ei. Natürlich haben sie jetzt den Heimvorteil, und sie werden ihre Fans im Rücken haben, aber trotz allem denke ich, dass wir eine reelle Chance auf das Viertelfinale haben. Wir müssen uns nur steigern. Englands Auftritte waren bisher doch recht fehlerhaft, jetzt kommt es darauf an, ob sie das gegen uns abstellen können.“
Stachel von Wembley sitzt bei Uwe Seeler tief
Ilka Seeler ergänzt: „Und es kommt auch auf den russischen Schiedsrichter an …“ Weiß sie schon mehr? Weiß sie, wer die Partie am Dienstag leiten wird? „Nein, nein, der russische Schiedsrichter war ein Scherz. Ich wollte damit nur sagen, dass auch der Unparteiische zu beachten sein wird.“
Wie damals, 1966 im Wembleystadion, die WM-Endspiel-Niederlage. Sofort ist Uwe zur Stelle: „Der Schweizer Gottfried Dienst war ja eigentlich ein guter Schiedsrichter, aber im Finale hat er uns tatsächlich richtig schön verpfiffen.“ Der Stachel sitzt immer noch tief, ganz, ganz tief, und so wird es auch immer bleiben. „Aber was hilft es uns, noch heute zu jammern? Wir haben uns ja auch damals mit Protesten zurückgehalten. Heute würde dieses Wembley-Tor natürlich durch den Videobeweis und die Torlinientechnik entlarvt werden, aber so weit waren die Jungs damals eben noch nicht“, sagt Uwe und fügt hinzu: „Unser faires Verhalten hat uns zwar seinerzeit viel Achtung in England und auf der ganzen Welt eingebracht, aber davon hatten wir auch nichts. Immer noch ärgerlich, diese Wunde bleibt ewig.“
Nun aber könnte die deutsche Mannschaft einmal mehr die Engländer aus dem Turnier befördern. Vielleicht sogar per Elfmeterschießen. Wie bei der EM 1996. Uwe Seeler hat gelesen, dass die Briten schon intensiv Schüsse vom Elfmeterpunkt trainieren, und meint: „Das kann man zwar machen, nützt aber nicht viel. Nach 120 schweißtreibenden Minuten musst du vor allem deine Nerven im Zaum halten können, darauf kommt es an, du darfst nicht nervös werden, du musst eiskalt bleiben. Das können aber nicht alle.“
Seeler: Frankreich noch nicht in Europameisterform
Mit dem Niveau des bisherigen Turnierverlaufs ist Uwe einverstanden: „Es gab doch schon einige recht gute und flotte Spiele. Unser 4:2 gegen Portugal war zum Beispiel sehenswert. Es sind zwar ein, zwei Mannschaften etwas abgefallen, aber es gab für mich auch positive Überraschungen. Ungarn ist das beste Beispiel. Die hätte ich vorher nicht so stark eingeschätzt. Und wenn wir beim glücklichen 2:2 nicht in München gespielt hätten, sondern in Budapest vor 67.000 Zuschauern, dann wäre es noch einmal viel, viel enger für uns geworden.“
Und wer könnte Deutschland auf dem Wege zum Titelgewinn gefährlich werden? Uwe Seeler: „Die Franzosen sehe ich noch lange nicht in der Form, die man braucht, um Europameister werden zu können. Auch die Spanier haben mich noch nicht überzeugt. Italien war bislang stark, und gut waren auch die Dänen bei ihrem 4:1-Erfolg gegen Russland. Die Dänen könnten durchaus eine Außenseiterchance haben.“
Einen echten Leistungsträger in der deutschen Mannschaft hat Uwe Seeler bislang nicht ausmachen können: „Da gab es doch einige Schwankungen zu viel. Der Robin Gosens war gegen Portugal großartig, gegen Ungarn jedoch war er gar nicht zu sehen. Aber da war ja keiner zu sehen, da waren unsere Spieler alle viel schwächer.“
Seeler verteidigt Sané
Dass einige Experten nun Bayerns Leroy Sané als Haupt-Sündenbock für das schlechte deutsche Spiel ausgemacht haben, ist für Uwe nicht unbedingt nachvollziehbar: „Der Junge kann was, das ist ein großes Talent, aber er muss spielen, spielen, spielen. Wenn er immer wieder mal draußen sitzt und an ihm gezweifelt wird, bringt ihn das nicht weiter. Ich erwarte von Sané in Zukunft auf jeden Fall noch einiges.“ Und dann ergänzt Seeler: „Eigentlich haben wir doch viele recht gute Spieler, wir müssen uns jetzt nur ganz schnell als eine Einheit präsentieren.“
Dieses sportliche Fazit vervollständigt Ilka Seeler noch voller Optimismus: „Ihr könnt reden, wie ihr wollt, Deutschland wird Europameister. Das ist kein Scherz. Verdient habe wir es zwar nicht unbedingt, aber ich sehe wirklich keine andere Mannschaft, die besser ist als wir. Ernsthaft.“
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Uwe lächelt dabei wohlwollend, enthält sich aber jeglichen Kommentars. Früher war er bei Welt- und Europameisterschaften stets vor Ort, war bei allen Länderspielen dabei, hautnah an der Mannschaft. Ob er das heute nicht doch vermisst? Er sagt voller Überzeugung: „Nein, absolut nicht. So, wie es ist, ist es gut. Ich würde mich, wenn ich jetzt noch dabei wäre, nur quälen. Raus aus den Klamotten, rein in die Klamotten. Umziehen für das Spiel, umziehen für das Essen, umziehen für offizielle Empfänge, umziehen für Fernsehauftritte und, und, und – das muss ich nicht mehr haben. Zu Hause mache ich es mir vor dem Fernseher schön bequem und gut ist.“
Zumal er dann auch Kaffee schwarz auf dem Tisch hat, den er zuvor weltmeisterlich für sich und Ilka gekocht hat.