Marseille. Nach dem Sieg im Halbfinale weicht in Frankreich die Beklemmung. Torjäger Antoine Griezmann dämpft vor dem Endspiel gegen Portugal die Erwartungen.

Wenige Minuten war der Finaleinzug erst alt, da inszenierte Frankreichs Nationalmannschaft gemeinsam mit ihren Anhängern noch einmal jenes „Huh“, mit dem die Isländer das Turnier geprägt hatten und das dieses wohl auch überdauern wird. Gemeinsam mit den Zuschauern auf der Tribüne steigerten Antoine Griezmann und die anderen französischen Spieler ihren Klatschrhythmus, begleitet von diesen wuchtigen „Huh“-Rufen. Als das Ritual beendet war, hüpften und tollten die Spieler aufgedreht auf dem Rasen umher. Die französischen Fans taten es ihnen erst auf der Tribüne und später auf den Straßen gleich, in Marseille und anderswo im Land.

Auch interessant

Die Bilder der ausgelassenen Stimmung hatten etwas Befreiendes, weit über das Stade Vélodrome hinaus. Und Griezmann, der beim 2:0 (1:0)-Sieg im Halbfinale gegen Weltmeister Deutschland beide Tore erzielt hatte (45.+2/Handelfmeter und 72. Minute), kam nicht umhin, die Brücke zu schlagen zu jenen Themen, die die EM überlagert hatten. „Es war unsere Pflicht, die Spiele zu gewinnen, um den Leuten eine Freude zu bereiten“, sagte der Stürmer. „Ich hoffe, wir können nun auch das Finale gewinnen.“

Befreiung von der Beklemmung

Am Sonntag im Saint-Denis steht dieses Spiel gegen Portugal an. In Frankreichs Nationalstadion, das beim Testspiel gegen Deutschland im November von den Terroranschlägen in Paris unmittelbar betroffen war. Seither war die Furcht vor weiterem Terror bei der EM sehr groß. Das Turnier hatte in einer regelrecht beklommenen Stimmung begonnen, nicht zuletzt auch durch die massiven Ausschreitungen von Hooligans, vor allem in Marseille. Und nun wurde Frankreichs älteste Stadt zu jenem Ort, von dem das Gefühl unbeschwerter Freude ausging, jedenfalls für diesen Abend. Noch spät in der Nacht spielten sich in der Stadt Jubelszenen ab. Die Menschen hatten nach Terror, Streiks und all den anderen betrüblichen Themen des Alltags einfach mal wieder Spaß. Und das nicht nur in Marseille.

Trainer Didier Deschamps sprach hinterher vor allem in sportlicher Hinsicht von einem emotionalen und historischen Erfolg. 58 Jahre lang hatte die französische Nationalmannschaft ja zuvor nicht gegen Deutschland in einem Pflichtspiel gewinnen können. Nun habe man bereits „eine großartige Geschichte geschrieben“, befand Deschamps. Aber auch er verband den Überbau von Sport und Alltag miteinander. Deschamps sagte: „Wir können natürlich nicht alle Probleme der Franzosen lösen, aber wir können dafür sorgen, dass sie von einem Teil dieser Probleme abgelenkt werden.“

Mit einem Erfolg am Sonntag gegen Portugal würde diese Ablenkung noch ein bisschen länger anhalten. Für Deschamps wäre der Titelgewinn der erste als Nationaltrainer. Den Titel bei der WM 1998 in Frankreich hatte er noch als Spieler geholt, ebenso wie den EM-Titel 2000. Er weiß aber, wie knifflig die Aufgabe am Sonntag gegen die bisher so kompakt auftretende Mannschaft seines Trainerkollegen Fernando Santos werden dürfte. „Die Portugiesen glauben genauso an sich, wie wir das tun“, sagte Deschamps. Es klang beinahe wie eine Warnung vor einer möglichen Enttäuschung.

Auch interessant

Seine Hoffnungen und die der Franzosen ruhen nun ganz besonders auf Griezmann. Der Stürmer von Atlético Madrid hat trotz der langen Saison samt verlorenem Champions-League-Finale nach Anfangsproblemen im Turnierverlauf wieder zu seiner Form gefunden. Mit sechs erzielten Toren ist er der überragende Spieler des Turniers, die letzten beiden kamen gegen Deutschland hinzu. Unter anderem durch den verwandelten Handelfmeter, nachdem er im Champions-League-Finale gegen Real Madrid Ende Mai noch einen Strafstoß verschossen hatte. „Ich wollte unbedingt einen wichtigen Elfmeter schießen“, sagte Griezmann hinterher. „Er ist ein hervorragender Spieler, das hat er wieder unter Beweis gestellt“, lobte Deschamps auch wegen dieses Muts.

Für Griezmann gerät das Finale nun auch zu einem Spiel gegen die jüngere Vergangenheit. Die eigene Elfmetergeschichte ist schließlich erst zum Teil aufgearbeitet. Cristiano Ronaldo wird Portugal ja als Kapitän aufs Feld führen. Im Champions-League-Finale vor sechs Wochen hatte Ronaldo für Real den letzten und entscheidenden Elfmeter verwandelt. Atlético und Griezmann gingen damals leer aus.