Paris/Évian-les-Bains. . Das fehlende Durchsetzungsvermögen beim 0:0 gegen Polen sorgt auch intern für heftige Diskussionen. Die Kritik des starken Abwehrspielers Boateng an der schwachen Offensive kommt nicht bei allen gut an.

Es war ungemütlich, als die DFB-Maschine in aller Herrgottsfrühe am Freitagmorgen in Annecy landete. Um 4.05 Uhr wurden Deutschlands Nationalspieler von Starkregen und Temperaturen um die 10 Grad begrüßt. Es war kalt, nass und spät. Oder früh, je nach Perspektive. Ein Sturm war aufgezogen und hatte das Département Haute-Savoie in den Rhône-Alpes rund um das deutsche Teamquartier in Évian-les-Bains in eine Monsunlandschaft verwandelt.

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Gerade noch rechtzeitig hatten Deutschlands Fußballer ihre Schäfchen nur fünf Stunden zuvor noch schnell ins Trockene gebracht. 0:0 im Topspiel der Gruppe C gegen Polen. Die Tabellenführung. Noch ein Punkt bis zum sicheren Einzug ins EM-Achtelfinale. Doch trotz des Punktgewinns war auch in den Katakomben des Stade de France von nichts anderem als vom Sturm die Rede. Oder besser: vom schmerzlich vermissten Sturm. Ein 0:0 einer deutschen Nationalmannschaft – das hatte es unter Bundestrainer Joachim Löw bei einem Turnier noch nie gegeben.

Besonders Jerome Boateng, dessen primäre Aufgabe eigentlich das Toreverhindern ist, haderte mit Deutschlands Abteilung Attacke: „Offensiv hat heute viel gefehlt. Wir müssen viel mehr Laufwege investieren, aggressiver sein, mehr Zweikämpfe gewinnen“, sprach Boateng in jedes Mikrofon hinein, das sich ihm entgegenstreckte. „Wir müssen mal zum Abschluss kommen. Wir spielen bis ins letzte Drittel gut, aber dann kommen wir nicht am Gegner vorbei, werden wir nicht gefährlich.“ Dann zeichnete der Innenverteidiger noch das Bild eines wenig verheißungsvollen Turnierverlaufs: „Das alles müssen wir verbessern, sonst kommen wir nicht weit.“

Rums. Boatengs Sätze hatten gesessen. Ähnlich humorlos, wie der Münchener in den 90 Minuten zuvor Weltklassestürmer Robert Lewandowski aus dem Spiel genommen hatte, sprach er auch die grundlegenden Probleme der deutschen Mannschaft im bisherigen Turnierverlauf an. Seine Offensivkollegen laufen viel, aber viel zu oft noch läuft das Spiel an ihnen vorbei.

Wer hat das gesagt?

Angesprochen auf Boatengs Grundsatz-Kritik musste sich Mesut Özil zunächst einmal kurz schütteln. „Wer hat das gesagt?“, fragte Özil vorsichtshalber noch einmal nach, ehe er sich die Worte für die mutmaßlich richtige Antwort zurechtlegte: „Jerome hat seine Meinung“, sagte er schließlich. „Er ist Defensivspieler und weiß, was vorne so alles passiert.“

Nach 0:0 gegen Polen: Lockeres Auslaufen bei DFB-Elf

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    Doch das Grundproblem, das Boateng sehr deutlich benannt hatte, war viel eher, dass vorne eben so gar nichts passierte. Nicht gegen Polen. Und auch nicht im Spiel zuvor gegen die Ukraine. „Nach vorne hatten wir zu wenige Lösungen“, gab dann auch Löw unumwunden zu, ohne allerdings eine überzeugende Erklärung für das Sturmtief der deutschen Mannschaft beizusteuern. „In der Offensive hat uns die Durchsetzungsfähigkeit gefehlt. Wir sind eine Mannschaft, die normalerweise am Boden kombiniert.“

    Vom in der Vergangenheit häufig gepriesenen deutschen Kombinationsspiel war allerdings herzlich wenig zu sehen. Kreativchef Özil? Kaum aufgefallen. Fleißbienchen Julian Draxler? Harmlos. Dauerläufer Thomas Müller? Verrannt. Und die hängende Spitze Mario Götze? Durchhängend.

    Müller noch ohne Torchance

    „Wir haben uns auch mehr erhofft. Aber es war schwierig gegen einen so tief stehenden Gegner“, sagte der enttäuschende Götze entschuldigend. „Wir hätten uns natürlich mehr Möglichkeiten erspielen sollen und müssen.“

    Das fand auch Thomas Müller, der nicht minder enttäuscht hatte. „Mich persönlich stört gar nicht, dass ich bei der Euro noch kein Tor geschossen habe, sondern dass ich die letzten zwei Spiele keine Tormöglichkeit hatte“, sagte der noch immer torlose EM-Stürmer, der ein besseres Offensivverhalten der ganzen Mannschaft anmahnte. Das Team habe einfach nicht den Eins-gegen-Eins-Spieler, wie ihn der FC Bayern habe. Keinen Robben, keinen Ribéry, keinen Costa, keinen Coman. „So ein Spieler fehlt vielleicht, aber den können wir uns nicht herbeizaubern“, sagte Müller. „Deshalb müssen wir es weiter mit Kombinationsfußball versuchen.“ Und was er zu Boatengs Grundsatzkritik zu sagen habe? „Er hat ja Recht“, sagte Müller, der aber nicht Müller wäre, wenn er nicht doch eine unkonventionelle Lösung für den weiteren Turnierverlauf parat hätte: „Mit einem 0:0 würden wir zumindest immer ins Elfmeterschießen kommen.“