Évian-les-Bains. Mesut Özil ist in England gereift. Im Zentrum soll der Profi des FC Arsenal bei der EM die deutsche Nationalmannschaft zum Titel führen.

Das Ismaninger Institut für Fußballmanagement hat kurz vor dem ersten EM-Gruppenspiel gegen die Ukraine (21 Uhr/ live bei uns im Ticker) errechnet, dass Mesut Özil das größte Potenzial von allen deutschen Nationalspielern besitzt. Nun ist jene Bildungsstätte bisher nicht mit bahnbrechenden Forschung aufgefallen. Aber hier handelt es sich ja auch um eine noch junge Wissenschaft: die vom Wert eines Fußballprofis.

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    Der setze sich nicht allein aus seinen sportlichen Leistungen zusammen, ist die These, sondern auch aus seinem Erfolg auf Social-Media-Plattformen. Das Stichwort heißt: Vermarktungspotenzial. Und Özil liegt da ganz vorn. Elf Millionen Follower hat er allein bei Twitter – mehr als Toni Kroos (3,79 Millionen), Manuel Neuer (3,54) und Bastian Schweinsteiger (3,19) zusammen, die auf den Plätzen hinter ihm einlaufen. Özil ist ein Social-Media-Phänomen. Neulich begab er sich auf den Hadsch, die islamische Pilgerfahrt nach Mekka, und 30 Millionen Menschen folgen ihm auf den unterschiedlichsten Kanälen. 30 Millionen, die auch dabei sind, wenn Özil mal nicht vor der Kaaba posiert, sondern zufällig vor einem Luxuswagen seines Sponsors.

    Das Problem mit der Ismaninger Fachrichtung ist allerdings, dass sich der Wert eines Spielers für eine Fußballmannschaft leider immer noch auf die altmodische Weise errechnet: Talent, Einfluss aufs Spiel und Torgefahr respektive Abwehrqualitäten lauten Variablen dieser Gleichung. Und hier sind die Gelehrten im Falle Özils bisher meist auf das Paradoxon gestoßen, dass sein Wert für die deutsche Nationalelf viel geringer ausfällt, als er eigentlich sein müsste.

    Özil war in Brasilien nur Nebendarsteller

    Die letzte große Studie stammt von 2014: Die WM in Brasilien hat wunderbare Geschichten erzählt: die vom blutenden Schweinsteiger, vom seitfallziehenden Götze und vom liberospielende Neuer. Von Özil erzählt man sich aus jenen magischen Wochen nichts – dabei stand er in allen Partien in der Startelf. Er war in Brasilien nur Mitläufer, obwohl er qua seiner Fähigkeiten alle anderen Spieler um sich herum wie Mitläufer aussehen lassen kann. Im Weltmeisterteam war er buchstäblich zur Randfigur geworden, spielte erst auf dem rechten, dann auf dem linken Flügel, wenngleich sein natürliches Habitat im Mittelfeldzentrum auf der Zehner-Position liegt. Aber die wurde kurzerhand von Joachim Löw abgeschafft. Alles hing da miteinander zusammen: Özil spielte schwach, weil er nicht richtig eingesetzt wurde. Und er wurde vom Bundestrainer nicht richtig eingesetzt, weil er viel zu schwach spielte.

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      Bei der EM in Frankreich hofft Löw, dass sich Özils Wert für die Mannschaft endlich dem annähert, den er haben könnte. Dass er nicht nur ein Social-Media-Phänomen ist, sondern auch wieder eines auf dem Feld wie bei der WM 2010 in Südafrika.

      Dafür ist der 56-Jährige bereit, Özil frei zu lassen von allen Zwängen, die das Spiel auf außen mitbringt. „Jetzt ist er für die Mannschaft am wertvollsten, wenn er in der Zentralen spielt“, sagte Löw. Er mag in Özil die Verwirklichung seines Ideals vom schönen Spiel sehen. Aber er ist schon lange kein Romantiker mehr.

      Özil bereitete in der vergangenen Saison 19 Treffer vor

      Die Entscheidung für den 27-Jährigen als zentrale Figur ist auch eine pragmatische: Der Bundestrainer hat in den vergangenen Monaten oft genug über den Ärmelkanals geschaut, wo Özil beim FC Arsenal eine fulminante Saison spielte: Mit Arsenal wurde er Zweiter in der Premier League, bereitete 19 Treffer vor und verpasste damit nur knapp den Liga-Rekord von Thierry Henry (20 Assists).

      Özil nennt die abgelaufene Spielzeit seine „beste und stabilste meiner Karriere“. Die Arsenal-Fans wählten ihn zum Spieler der Saison. Özil wirkt jetzt wie eine erwachsene Version von sich selbst.